Bilder im Kopf

Nach dem Zähneputzen kam Sven wieder ins Wohnzimmer, wo ich auf dem Sofa wartete, seufzte und sagte: „Ich wünsche, ich könnte wieder als Baby anfangen. Es gibt so etwas Schlimmes in meinem Leben“.

Er war zu diesem Zeitpunkt erst 10 und ich war auf alles gefasst, aber das was dann kam, hatte ich nicht erwartet.

„Ich habe wieder diese Bilder im Kopf von den Horrorfilmen, die meine Kollegen während der Pause auf ihren iPods oder Handys schauen und mir zeigen. Ich werde sie nicht los und ich kann deswegen nicht einschlafen und habe nachts Angst.“

Ich holte ihn zu mir auf’s Sofa und nahm ihn in den Arm. Mein Herz war schwer, weil ich wusste, dass es nur der Anfang war. Es wird in seinen Teenagerjahren nicht besser werden und wenn ich ihn schon jetzt nicht von diesen Dingen beschützen kann, werde ich es später noch weniger können. Und ich war wütend über eine Industrie, die eine Generation heran zieht, die leidet, weil sie Bilder im Kopf hat, die sie nicht los wird. Und diese Bilder sind alles andere als gut. Sie verletzen und machen kaputt. Sie schüchtern ein und pflanzen Angst.

Da ich ihn nicht vor diesen Dingen beschützen kann, muss ich ihm beibringen mit diesen Bildern und Eindrücken so umzugehen, dass sie ihre Kraft verlieren und möglichst wenig Schaden anrichten. Zuerst lobte ich seine Ehrlichkeit und dass er seinen Männerstolz überwunden hatte, mir davon zu erzählen. Das ist immer der erste Schritt und schon dadurch verliert das Dunkle seine Kraft. Und dann sagte ich ihm, dass er mit diesen Dingen immer zu mir kommen könne. Immer. Die Tür ist immer offen. Ich werde die Last mit ihm tragen, ihm zuhören und dann werden wir Gott alles vor die Füsse werfen, weil dieser Gott auch Gedanken heilen kann. Er verspricht ein neues Leben – und das war es doch, was Sven wollte: einen Neuanfang.

Ein Gebet für mich und dich

Du, ja du, du mit dem Etikett ‚geschieden‘, ja, ich meine dich. Schau nach oben und lass die Tränen laufen. Atme tief ein und wieder aus.

Das Leben geht an dir vorbei, sagst du, denkst du, fühlst du. Keiner, der da ist, keiner, der versteht wie es sich anfühlt nur noch ein Halbes zu sein und trotzdem das Ganze tragen zu müssen, keiner, der dir einen Ehrenplatz anbietet, weil, was hast du schon zu bieten ausser ein Haufen Scherben.

Ich möchte dir heute, hier und jetzt, einen Platz frei machen. Möchte dich sehen, wie du gerade und stolz dein Haupt erhebst und weisst,

ich bin wertvoll

ich bin ganz

ich bin genug

ich bin wunderschön

ich bin stark

Alles wird gut, nicht weil du alles kannst und alles weisst und alles richtig machst. Nein, alles wird gut, weil es einen gibt, der nie aufgibt, der alles hält und sogar und besonders dich hält und erhält.

Der Plan für dein Leben war gut und ist immer noch gut. Der Plan hat sich nicht geändert, es ist auch kein neuer Plan da. Es ist der Plan, der schon immer da war. Ein Plan geprägt von Liebe und Geduld, von Barmherzigkeit und Gnade, ein Plan von einem freundlichen, liebevollen und ja, einem netten Gott. Das passt aber nicht zu all dem, was ich erlebt, erduldet und erlitten habe, schreit dein Herz. Das darf es auch schreien. Das soll es auch schreien. Und wenn es sich dann ausgeschrien hat, soll es ruhig werden, weil einer da ist, der grösser ist als alle Ungerechtigkeit, als alles Versagen, als alles Stolpern. Einer, der an dich glaubt und der immer noch an seinem Plan für dich festhält. Dein Herz weiss es, spürt es. Lass es zu.

Heute bete ich für dich. Dass mit jedem Einatmen ein Stück Würde zurückkommt. Mit jedem Ausatmen ein Stück Scham geht. Dass mit jedem Einatmen Vertrauen zunimmt. Mit jedem Ausatmen Verzweiflung schwindet.

„Du bist geliebt und gewollt. Du bist ein kostbares Kind“ heisst es in einem Lied und das gilt heute, hier und jetzt für dich. Es gilt für immer. Atme es ein.

Trennungszeit 6 – Was ich dir noch sagen wollte

Du hast dich von deinem Partner getrennt und ich ringe nach Worten. Ich möchte aus meinem Erfahrungsfundus ein schlaues Wort heraus zaubern, aber ich finde so schnell keines. Was kann ich dir mitgeben? Ich will nicht zu viel sagen, ich will aber auch nicht schweigen! Plötzlich kommt mir dieser Gedanke und ich sage diese Worte nicht nur zu dir, sondern auch zu mir und zu uns allen, die wir von einem Scheitern im Leben betroffen sind:

Du brauchst dich für deine Trennung nicht zu schämen. Du hast dich für deine Ehe eingesetzt, hast hingeschaut und die Dinge beim Namen genannt. Du hast dich nicht vor der Ehrlichkeit und der Beziehungsarbeit gescheut. Es war ein ganzes Stück harte Arbeit. Du hast geredet, geweint, gehofft und geglaubt und dich entschieden der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und zu retten, was noch zu retten war. Das braucht Mut und dafür brauchst du dich nicht zu schämen.

Es fühlt sich wie eine Niederlage an, weil es nicht dem entspricht, was so viele als richtig empfinden. Es entspricht ja auch nicht dem, was du ursprünglich wolltest. Aber an der Wahrheit festzuhalten und dich für einen aufrichtigen Lebensstil zu entscheiden, ist bewundernswert. Dafür brauchst du dich nicht zu schämen.

„Nicht der Kritiker zählt; nicht der Mann, der aufzeigt, wie der starke Mann stolpert, oder wo der Vollbringer von Taten diese hätte besser machen können. Das Ansehen gebührt dem, der tatsächlich in der Arena steht, dessen Gesicht von Staub, Schweiß und Blut gezeichnet ist und der tapfer weiter strebt; der irrt und wieder und wieder fehlt, denn es gibt keine Bemühungen ohne Irrtümer und Schwächen. Das Ansehen gebührt dem, der tatsächlich bestrebt ist die Taten auszuführen, der große Begeisterung kennt, und große Hingabe; der sich einer wertvollen Sache hingibt; der im besten Fall den Triumph des Erfolges erfährt und im schlimmsten Fall scheitert, aber wenigstens mutig wagt.“ Theodore Roosevelt, US-Präsident, 1858-1919

Scham will uns einreden, dass wir das Leben nicht gut meistern, will uns unsere Berechtigung etwas zu tun und sagen rauben. Scham schneidet uns vom Leben ab und am Schluss stehen wir ganz einsam da und drehen uns nur noch um uns selbst. Wenn wir warten, bis wir unserer Vorstellung (oder der Vorstellungen von anderen) entsprechen, werden wir lange warten und weder in unserem Leben noch in der Welt etwas bewegen.

Deshalb, gebe der Scham keinen Raum. Du bist wertvoll, du hast viel Arbeit hinter dir, du bist vielleicht auf dem Boden gelandet, verschwitzt, staubig und mit blutigen Knien, aber du bist mutig und stark und dein Leben liegt noch vor dir! Packe diese Chance mit beiden Händen und wage es mutig zu sein!

Dein Scheitern ist nicht nur ein Ende, es ist auch ein Anfang.

Nackt oder das liebe Geld

Ich las kürzlich im Tagesanzeiger einen Artikel über eine alleinerziehende Mutter, die als Sozialempfängerin am Existenzminimum lebt. Solche Schicksale sind sehr bewegend, weil sie hier mitten unter uns in diesem reichen Land stattfinden. Sie bewegen mich auch deshalb, weil es genauso gut mich hätte treffen können. Vieles kam mir auch sehr bekannt vor, weil ich kürzlich, um eine finanzielle Unterstützung für meine Kinder zu bekommen, meine Finanzen (zwar nicht auf dem Sozialamt, aber trotzdem) offen darlegen musste. Diese Frau sagt über den Gang aufs Sozialamt: „Es ist ein gewaltiger Eingriff in die Privatsphäre, man legt sein ganzes Leben auf den Tisch und fühlt sich wertlos.“

Ich las diese Worte und wusste, ja, genau so ist es. Wenn ich erklären muss, woher wie viel Geld kommt – und auch noch wofür ich es ausgebe – da habe ich das Gefühl, dass ich nackt dastehe. Es ist kein angenehmes Gefühl, auch wenn ich sage, dass es mir nichts ausmacht. Es macht doch was aus. Und es macht auch was mit mir. Ich fühle mich irgendwie etwas weniger wert. „Jeder scheint für sich sorgen zu können, nur ich kann es nicht“ geht mir dann durch den Kopf. Wertlos.

Ich vergleiche zu schnell und zu oft. Und ich vergesse zu schnell und zu oft, dass wir bisher immer mit allem versorgt wurden, was wir brauchen und das auf mehr als nur auf der materiellen Ebene.

Wir essen dreimal täglich, haben fliessendes Wasser, ein warmes Haus, Kleider und Schuhe zum anziehen – sogar ein Auto!!! Ich liebe meinen Beruf und (meistens) mein Muttersein und darf mich wirklich nicht beklagen – und vor allem ist mein Leben ist reich an Erfahrungen, an Freundschaften, an Liebe (okay, ich hätte nichts gegen einen Partner… :-)). Und dann denke ich: Wertvoll.