…ist so ‚ne Sache. Wir haben ja das Gefühl wir tun dem andern ein Gefallen, wenn wir ihm vergeben und vergessen dabei, dass wir uns damit selbst den grössten Gefallen tun.
Warum geht es uns so? Vergebung gibt man. Es ärgert mich, dass ich jemandem etwas geben soll, der mir Unrecht getan hat. Ich will dem nichts geben. Er soll gefälligst mir was geben. Er soll zugeben, dass er Unrecht hatte, dass er mich schlecht behandelt hat, dass er mich beraubt hat (von meinem Selbstwert, meinem Stolz, meinen Finanzen, … – hier darfst du einsetzen, was du willst). Das sind meine Gefühle. Und ja, das sind echte Gefühle, die wir auch haben dürfen. Wenn wir die nicht hätten, wären wir ja kaum menschliche Wesen. Aber, und hier kommt das grosse Aber, das ist erst der Anfang. Es hört hier nicht auf, es fängt hier erst an.
Wir dürfen und sollen sagen, was nicht Recht war. Wir dürfen und sollen Schmerz und Enttäuschung über erlebtes Unrecht ausdrücken und zulassen. Es hat seinen Platz. Und keinen Unwichtigen. (Die Anerkennung von Unrecht kommt manchmal etwas zu kurz. Wenn ich zum Beispiel etwas erzählt habe, was mir im Zusammenhang mit der Scheidung geschehen ist, habe ich oft zu hören bekommen: „Ja, aber du musst verstehen, seine Kindheit und Prägung und …“ was weiss ich noch. Meinen die, ich wüsste das nicht? Es hätte mir genügt, wenn man das was mir geschehen ist, als Unrecht anerkannt hätte und einfach stehen lässt. Es ist nicht nötig zu vermitteln und Partei zu ergreifen. Man darf zuhören und anerkennen. Punkt. Das genügt wirklich. Man darf noch anfügen, dass es einem Leid tut, dass die Dinge so gelaufen sind. Das wäre auch nett.) Wir kommen nämlich erst weiter, wenn wir dazu stehen, was nicht Recht war, was übrigens genauso für unsere eigene Schuld gilt, wie die des anderen.
An dieser Stelle könnten wir anfangen zu ahnen, dass der andere diese Fehler an uns beging, weil er selber gefangen und nicht frei (und perfekt) ist. Und dann könnten wir auch anfangen zu ahnen, dass wir uns oft gegenüber anderen auch nicht perfekt verhalten. Aber auch wenn wir das alles nicht ahnen, folgen noch weitere Schritte.
Denn dadurch, dass wir dem anderen nicht vergeben, binden wir dem dunklen Schatten dieses Unrechts einen Strick um den Hals und befestigen ihn an unseren Hals. „Das werde ich nie vergessen“, schwören wir uns und dabei schnürt es uns die Kehle zu (und wir kriegen einen heissen Kopf). Ja, dann leb mal schön weiter mit diesem Schatten, den du an dich gekettet hast und der dir auf Schritt und Tritt folgt und dir immer wieder die Kehle zuschnürt.
Ich habe mir irgendwann mal gesagt, dass ich nicht so leben will. Nicht jetzt und nicht in der Zukunft. Ich will frei atmen können. Jetzt und für immer. Da gibt es nur eins: Strick durchschneiden und Schatten loswerden. Das bedeutet, dass ich dem anderen sage: „Ich vergebe dir“. Diese Vergebung hat absolut nichts damit zu tun, dass das Unrecht nicht Unrecht ist, sondern damit, dass ich dem Unrecht keine Macht über mir, meinen Gedanken und schliesslich über mein Leben gebe. Ich lasse es los. Ich trenne mich vom Schatten und von der Vorstellung, dass dieses Unrecht mein Leben definiert. Ich höre auf zu erwarten, dass der andere zur Einsicht kommt und sich für sein Verhalten entschuldigt. Keine Erwartungen mehr. Ich lasse das Unrecht, die Vorstellungen, die Erwartungen und den Menschen los. Das ist Vergebung.
Zum Nachdenken: Wir stellen uns vor, dass der andere darunter leidet, dass wir ihm nicht vergeben habe. Das ist ein Trugschluss. Der andere kümmert sich überhaupt nicht darum. Der lebt sein Leben frisch und fröhlich weiter und du bist diejenige, die leidet. Das ist irgendwie gemein, aber so isses und ich kann es auch nicht ändern. Deshalb: Vergeben und frei atmen!
Nachtrag: Der letzte Artikel über das Vertrauen war hauptsächlich für mich. Und auch dieser Artikel über das Vergeben ist hauptsächlich für mich. Wie ihr merkt, bin ich gerade auf verschiedenen Fronten herausgefordert und wenn ich schreibe, schreibe ich eben oft (eigentlich immer) für mich und ihr dürft dann einfach mitlesen. Ist doch schön, oder?
Danke für diese gut formulierten Gedanken!
Weil ich kürzlich von jemand zum Thema Vergebung – Versöhnung befragt wurde, kramte ich in meinen Studienunterlagen und bin über die unten angefügten Unterrichtsnotizen gestolpert. Ich musste gerade grinsen, weil so vieles in den Notizen sehr ähnlich zu deinen Gedanken ist. Du bist also voll auf Kurs :-). Ich lese deinen Blog immer wieder gern! Danke!
Hier meine Unterrichtsnotizen aus dem Jahr 1995:
5.1.2. Was Vergebung ist (am Beispiel von Mt. 18, 21-35)
a) Die Schuld muß festgestellt werden (V. 24)
Es ist nicht verkehrt, richtig abzurechnen. Wir müssen über die Schuld des anderen nachdenken und möglichst genau beim Namen nennen. In jeder guten Rechtsprechung wird der Tatbestand genauestens ergründet und aufgewickelt. Die Schuld im Gebet mit Gott besprechen. Diese Freiheit muß da sein. Es hilft einen Zettel zu nehmen und genau aufzuschreiben, wo die Schuld liegt, was alles passiert ist, worin z. B. der Vater am Kind gesündigt hat. Wo, wie und wann hat die Sünde stattgefunden?
b) Erlassung der Schuld (V. 27)
Erlassung der Schuld bedeutet, daß ich auf Rechtsforderungen verzichte. Vergebung bedeutet, ich entlasse den anderen aus meiner Rechtsforderung. Die Schuld steht fest, sie steht im Raum – aber sie wird erlassen. Das ist eine Entscheidung des Herzens, ein Willensakt mit rechtlicher Wirkung. Vergebung hat nichts mit Toleranz der Sünde zu tun. Sünde ist und bleibt Sünde.
c) Den entlassenen Schuldner nicht mehr würgen (V. 28)
Das bedeutet: „Ich verzichte auf meine Forderungen und jegliche Strafmaßnahmen. Ich übe keinen Druck mehr auf meinen Bruder aus, der Schuldschein wird nicht sicherheitshalber heimlich irgendwo aufbewahrt.“ Aktive Vergebung bedeutet nicht, den anderen gerecht zu sprechen. Nein, er hat gesündigt, er ist an mir schuldig geworden, aber ich entlassen ihn aus meinen Forderungen. Was bedeutet „würgen“? – Nicht mehr mit ihm kommunizieren (Schweigen); immer wieder Vorhaltungen machen; Rache (Retourkutsche); böse Gedanken; negativ über den anderen Reden; falsche Gerüchte streuen.
Es ist beruhigend zu wissen, dass ich „auf Kurs“ bin ;-). Danke für deine ermutigende Worte.