(Ich wollte diese kleine Serie eigentlich mit diesem Artikel abschliessen, aber da der Artikel, der an dieser Stelle erscheinen sollte sich nicht richtig abspeichern liess und ich ihn noch einmal schreiben muss, schiebe ich meine Gedanken über Perspektive hier ein.)
Als die Schweiz in der WM 2018 gegen Brasilien ein Resultat von 1:1 erzielte, hörte ich am Radio einen interessanten Kommentar zum Resultat. Ein Sportreporter meldete: „Die Schweiz hat 1:1 gegen Brasilien gewonnen!“ Dann wurden die Reaktionen der Spieler eingespielt. Der erste Spieler, der zu diesem Resultat befragt wurde (und ich gebe nur den ungefähren Wortlaut wieder), war fast ein wenig empört, man dürfe die Schweiz nicht kleiner machen als sie sei. Das sei ja gar keine Überraschung, die Schweizer Nationalmannschaft sei durchaus zu diesen und grösseren Leistungen fähig. Der zweite Spieler fand das Resultat ganz ordentlich und war zufrieden und der dritte war ganz aus dem Häuschen vor Glück.
Wir beurteilen Lebenssituationen immer aus unserer ganz eigenen Perspektive heraus; das ist beim Thema Scheidung und einer Wiederheirat nicht anders als beim Fussball. Diese Perspektive, oder Brille, ist durch Verschiedenes geprägt, zum Beispiel, durch unsere Persönlichkeit, Erziehung, unsere Familien, unseren Glauben, unsere Erfahrungen und Vergangenheit, unsere Art die Welt zu verstehen und einzuordnen, unsere Kultur, usw. Ob und in welchem Mass wir selbst von einer Situation betroffen sind, spielt dabei eine ganz grosse Rolle. Denken wir nur an kinderlose Menschen, die immer besser wissen, wie ein Kind zu erziehen ist, als die Eltern … . Wie wir über Scheidung denken, hat oft damit zu tun, wie sehr wir davon betroffen sind. Vielleicht hatten wir Eltern, die sich scheiden liessen; vielleicht gute Freunde oder Geschwister; vielleicht waren es wir selbst. Wer selber eine super gute Ehe hat, kann oft nicht verstehen, warum andere Paare das nicht hinkriegen.
Vor meiner Scheidung habe ich über gewisse Dinge in diesem Bereich noch ganz anders gedacht. Plötzlich aber stand meine Welt Kopf, der Boden wurde mir unter den Füssen weggerissen und gewisse Glaubenssätze, für die ich früher den Kopf hingehalten hätte, kamen ins Wanken. Aussagen, die mir früher Halt und Hoffnung gegeben hatten, die ich vielleicht aus sehr wohlmeinenden Beweggründen an andere weitergegeben habe, waren plötzlich wertlos und klangen wie ein Hohn. (Das sind die Ratschläge, die Schläge sind…)
Wir merken, es ist alles nicht so einfach.
Und deshalb gebe ich an dieser Stelle ein paar (echte) Beispiele:
Freundin A. war 10 Jahren nach ihrer Trennung und Scheidung alleine bevor sie eine neue Beziehung einging. (Bei mir war das übrigens auch so.) Als wir uns über diese Zeitspanne unterhielten, merkten wir, dass diese 10 Jahre von Aussenstehenden sehr anders aufgefasst werden, als von uns Betroffene. Man möchte uns und diese 10 Jahre als Ideal, als Vorbild hochstilisieren. Nein, nein, nein, macht das bitte nicht! Diese 10 Jahre waren zwar unser Weg, den wir voller Überzeugung gegangen sind, aber wir, die wir eine Trennung, Scheidung und 10 Jahre alleinerziehend erlebt haben, empfinden diese Zeit schon als bedrohlich lange, fast zu lange. Ich, zum Beispiel, überlegte mir, ob ich mich nach dieser höchst intensiven und belastenden Zeit überhaupt angemessen auf einen neuen Partner einlassen könnte. War es vielleicht schon zu spät? Werde ich nach all dem Erlebten und Erlittenen wieder den Mut zur Verletzlichkeit der Liebe finden? Will ich, kann ich diese Risiko wieder eingehen? Und dann gibt es noch die Kinder zu berücksichtigen. Auch das ist nicht so einfach und wir als Betroffene nehme diese Fragen sehr ernst.
Freundin B. (seit Ewigkeiten verheiratet und zwar glücklich) ermutigte mich vor Jahren lieber einen geschiedenen Mann zu suchen, als einen der noch nie verheiratet war. „Dann hast du jemanden, der das versteht – Perspektive – (und der aus seinem Scheitern hoffentlich auch was dazu gelernt hat).“
An der Hochzeit von Freundin C. vor einigen Wochen kam ich mit einer Frau ins Gespräch, die mich fragte, wann meine Hochzeit wäre. Als ich ihr sagte, dass ich diesen Sommer heiraten würde, meinte sie erstaunt: „So schell!“ Ich verkniff mir die Erklärung, dass mein Zukünftiger seit über 10 Jahre zu meinem Bekanntenkreis gehört, wir seit zwei Jahren in einer festen Beziehung stehen und seit einem Jahr verlobt sind. Perspektive. Für die einen kommt das mit meiner Hochzeit „schnell“ für mich kommt es gerade richtig.
Freundin D. ist kurz nach der Trennung eine neue Beziehung eingegangen. Ich hörte schon alle stöhnen, „kann das gut gehen?“ und „da lief sicher vorher schon was!“ Nun, da lief vorher nichts, aber die Ehe war schon mindestens fünf Jahre vor der Trennung zerrüttet und deshalb war Freundin D. innerlich bereit für eine neue Beziehung, und die neue Liebe hat glücklicherweise das vom Ex-Mann zerstörte Selbstwertgefühl wieder langsam aufgebaut und gefestigt, wofür ich Gott und dem neuen Freund unendlich dankbar bin.
Vielleicht lohnt sich ab und an der Gedanke, wie sich eine Situation aus der Perspektive des Betroffenen aussieht. Vielleicht wollen wir mal nachfragen, wie ein Betroffener seine Situation erlebt, anstatt Dinge anzunehmen, die uns (aus unserer Perspektive) logisch erscheinen. Vielleicht können wir sogar etwas dazulernen! Vielleicht können wir auch einfach akzeptieren, dass die Dinge nicht immer so geschehen werden (= dass Menschen nicht immer so handeln werden), wie wir es uns vorstellen – weil jeder seine eigne Brille trägt.