Über Sonntagsfahrer am Mittwochmorgen

Vor mir kriecht ein Aargauer – ja muss denn der so langsam fahren? Ah, er biegt ab, aber jetzt habe ich einen kleinen Transporter vor mir, der auch nicht schneller fährt…jetzt biege ich ab und prompt fahre ich hinter einem St. Galler, der es auch nicht eilig hat und sich vermutlich in der Gegend nicht auskennt.

Heute komme ich besonders langsam vorwärts, dabei wollte ich diesmal nicht zu spät ins Fitness kommen (wie letzte Woche) und bin extra ein paar Minuten früher aus dem Haus, um in Ruhe den festgefrorenen Schnee (der inzwischen geschmolzen und wieder gefroren und daher eher als Eisschicht zu bezeichnen war) von der Windschutzscheibe zu kratzen. Das habe ich geschafft und jetzt kam ich doch nicht richtig vom Fleck.

Auf der letzten Geraden vor meinem Ziel war die Bahn endlich frei und ich schaute kurz auf die Zeit. Ja so was, ich bin super dran – trotz all den Sonntagsfahrern, die am Mittwochmorgen unterwegs waren. Und innerlich höre ich eine klare Stimme, die sagte: Siehst du, ich schaue schon, dass du rechtzeitig an dein Ziel ankommst. Mach’ dir nicht so viele Gedanken über die Autos (oder die Menschen!!), die dich davon abhalten so schnell wie du es möchtest an dein Ziel zu kommen. Ich seh’ das. Ich hab’ immer gleichzeitig dich und das Ziel im Auge und – ich erinnere dich gerne daran – bisher hast du deine Ziele immer rechtzeitig erreicht.

Aha.

Ich bog schwungvoll in den Parkplatz und wurde ganz still. Denn da hat jemand ganz viele Gedanken des Friedens über mir, er kennt meinen Weg und das Ziel, er weiss wie ich’s meine und er lässt mich nicht im Stich.

Ach, wie schön!

Ich joggte mal wieder um den See. Ich wollte eigentlich gar nicht um den See joggen, sondern nur bis zum See, aber als ich hinkam, fand ich es so schön, dass ich dann doch um ihn herum joggte. Meine ersten Worte, als ich zum See kam, waren: „Ach, wie schön!“ Dazu muss ich euch erklären, wie dieser See aussieht. Es ist ein künstlich angelegter See. Das heisst, es ist ein sehr langgezogenes Rechteck. Er ist nicht besonders gross, aber doch speziell, weil auf der einen Seite ein Sandstrand angelegt wurde und auf der anderen Seite Schilf wächst. Es hat viele Enten, ab und zu einen Schwan oder zwei und manchmal sehe ich dort auch einen Reiher. Der wird dann immer besonders herzlich von mir begrüsst. Auf der Schilfseite befindet sich eine sehr grosse Wiese und dann noch ein wenig Wald. Am Waldrand wurden schöne Grillplätze installiert, die im Sommer sehr begehrt sind. Auf der Strandseite stehen grosse Wohnblöcke, die zum Teil noch nicht fertig gebaut sind.

Es ist also nicht einfach schön, wie schön natürlich oder schön unberührt und naturnah, sondern voller Gegensätze. Die eine Seite sehr natürlich und erholsam, weit und grün. Die andere Seite dicht bebaut und grau, Beton und Glas. Trotzdem sind meine ersten Worte, wenn ich dorthin komme, „ach wie schön.“ Und gleich nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, spürte ich eine Wahrheit aufkeimen. Was ist schön? Ist mein Leben schön? Es ist nicht schön in dem Sinn, dass alles unberührt und naturnah belassen wurde, es hat da auch die eine oder andere Baustelle gegeben. Was aber schliesslich zur Folge hatte, dass Menschen in mein Leben getreten und zu denen Beziehungen entstanden sind, die sonst nicht da wären. Und gerade diese Begegnungen, Beziehungen und Freundschaften machen mein Leben so kostbar und wertvoll – und ja, schön.

Es gibt eine japanische Reparaturmethode für Keramik, in der ein zerbrochenes Tongefäss mit einer Kittmasse geflickt wird, in der Pulvergold oder andere Metalle wie Silber und Platin eingestreut sind. (Es gibt auf Wikipedia einen Artikel dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Kintsugi.) Ein zerbrochenes Gefäss wird so zu einem kostbaren Kunstwerk. Wie eine Tonschale, kann auch ein Leben zerbrechen und wie eine zerbrochene Tonschale können auch die Risse in unserem Leben mit Gold geflickt werden, was uns nur kostbarer macht. Deshalb: Ein Leben, genauer gesagt, dein und mein Leben, kann auch mit einer (oder mehreren) Baustellen schön sein, wie mein See; so schön, dass einem einen Momentlang der Atem stockt und man sich dazu entschliesst doch noch ein Weilchen zu bleiben.

http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Tea_bowl_fixed_in_the_Kintsugi_method.jpg