Mein Jahr fängt an

Es war drei Uhr nachmittags am 2. Januar und schon die dritte Abholfahrt an diesem Tag. In einem Arm hielt ich ein paar Ski fest, unter dem anderen klemmte ich ein Snowboard ein und in einer Hand hielt ich eine grosse Tasche und hoffte, dass die Turnschuhe, die darauf balancierten auch dort bleiben würden. Meine Tochter lief mit einem grossen Koffer, einem Rucksack und einem Skihelm mit baumelnder Skibrille vor mir her. Wir mussten an der Garageneinfahrt zwei Kleinbusse an uns vorbei lassen bevor wir selber die Rampe hinab zu unserem Auto in der Tiefgarage marschieren konnten.

Der Samstag hatte früh angefangen. Um 7 Uhr war ich losgefahren, quer durch die noch dunkle Stadt. Es regnete und kaum war ich im Zentrum streikte mein Navigationsgerät. Mir blieb nichts anderes übrig als den Weg zu erraten, was sich als schwierig erwies, da ich keinen blassen Schimmer hatte, welche Richtung ich einschlagen sollte. Als sich das Navi wieder bequemte mitzumachen, musste ich „bitte wenden“ und war schnell wieder in der richtigen Richtung unterwegs. (Das ist alles nicht wirklich schlimm, aber ich gerate bei solchen Situationen leicht in Panik… .) Mit verkrampften Magen und nach einigen Tränen (weniger wegen der Fahrerei als wegen meiner scheinbaren Unfähigkeit das Leben als Alleinerziehende gut zu meistern) kam ich nach einer Stunde im Lagerhaus an, gerade als es hell wurde. Dort erwartete mich mein Sohn, der sich während dem Lager öfters mal übergeben hatte und deshalb abgeholt werden musste. Diese Aufgabe fiel mir zu, obwohl die Verantwortung für die Kinder meiner Meinung nach beim Ex lag; er sah das wohl anders und – man kann es nicht anders formulieren – hatte mein Mutterherz ausgenutzt. Ich kam mir zumindest ausgenutzt vor. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich den Kürzeren ziehe und meine Pläne ändern muss, weil die Pläne des Ex scheinbar unumstösslich sind – im Gegensatz zu meinen. Das darf ich hoffentlich an dieser Stelle auch mal sagen. Diese Situation ärgerte und beschäftigte mich bereits schon seit dem Abend davor.

Nun gut. Ein paar Stunden später war ich wieder unterwegs, um meine Älteste abzuholen. Ich schaffte es knapp ihren grossen schweren Koffer ins Auto zu hieven und stiess nicht zum ersten Mal an diesem Tag ein Stossgebet zum Himmel: Einen Partner zu haben wäre wirklich, wirklich schön! Gott, meinst du das geht irgendwie???

Und dann, wie ich schon sagte, holte ich das dritte Kind um kurz nach drei ab und stand schwer beladen vor dem Garagentor. Plötzlich winkt uns der Fahrer des zweiten Kleinbusses zu. Es war Jochen, der Götti (Patenonkel) meiner Tochter. Er stieg aus, packte Ski, Snowboard und Koffer in den Minibus und fuhr alles vor unser geparktes Auto. Zack und fertig gejammert. Die Freundlichkeit, die mir in dieser kleinen Geste der praktischen Hilfe entgegenkam, machte mir Mut und berührte mein Herz inmitten der ganzen Bedrückung der letzten Stunden ganz tief. Ich fühlte mich gesehen und getröstet.

Ein Gebet für mich und dich

Du, ja du, du mit dem Etikett ‚geschieden‘, ja, ich meine dich. Schau nach oben und lass die Tränen laufen. Atme tief ein und wieder aus.

Das Leben geht an dir vorbei, sagst du, denkst du, fühlst du. Keiner, der da ist, keiner, der versteht wie es sich anfühlt nur noch ein Halbes zu sein und trotzdem das Ganze tragen zu müssen, keiner, der dir einen Ehrenplatz anbietet, weil, was hast du schon zu bieten ausser ein Haufen Scherben.

Ich möchte dir heute, hier und jetzt, einen Platz frei machen. Möchte dich sehen, wie du gerade und stolz dein Haupt erhebst und weisst,

ich bin wertvoll

ich bin ganz

ich bin genug

ich bin wunderschön

ich bin stark

Alles wird gut, nicht weil du alles kannst und alles weisst und alles richtig machst. Nein, alles wird gut, weil es einen gibt, der nie aufgibt, der alles hält und sogar und besonders dich hält und erhält.

Der Plan für dein Leben war gut und ist immer noch gut. Der Plan hat sich nicht geändert, es ist auch kein neuer Plan da. Es ist der Plan, der schon immer da war. Ein Plan geprägt von Liebe und Geduld, von Barmherzigkeit und Gnade, ein Plan von einem freundlichen, liebevollen und ja, einem netten Gott. Das passt aber nicht zu all dem, was ich erlebt, erduldet und erlitten habe, schreit dein Herz. Das darf es auch schreien. Das soll es auch schreien. Und wenn es sich dann ausgeschrien hat, soll es ruhig werden, weil einer da ist, der grösser ist als alle Ungerechtigkeit, als alles Versagen, als alles Stolpern. Einer, der an dich glaubt und der immer noch an seinem Plan für dich festhält. Dein Herz weiss es, spürt es. Lass es zu.

Heute bete ich für dich. Dass mit jedem Einatmen ein Stück Würde zurückkommt. Mit jedem Ausatmen ein Stück Scham geht. Dass mit jedem Einatmen Vertrauen zunimmt. Mit jedem Ausatmen Verzweiflung schwindet.

„Du bist geliebt und gewollt. Du bist ein kostbares Kind“ heisst es in einem Lied und das gilt heute, hier und jetzt für dich. Es gilt für immer. Atme es ein.

Veränderungen

Veränderungen sind nicht so mein Ding.

Das macht ein neues Jahr nicht immer einfach und gerade in diesem Jahr kommen ein paar Veränderungen auf mich zu. Als erstes gibt es in unserer Gemeinde Veränderungen: Ab Januar ein neuer Leiter, eine neue Leiterin. Dann für unsere Familie, spätestens ab September: eine neue Wohnung.

Es ist ja nicht so, dass ich mit Veränderungen keine Erfahrung habe: Ich habe in drei Ländern auf verschiedenen Kontinenten gelebt; meine Schulbildung war nacheinander in drei verschiedenen Sprachen; ich bin bisher 16 Mal umgezogen. (Die bald 15 Jahre in der jetzigen Wohnung sind ein richtiger Rekord und haben mir und meiner Seele gut getan.)

Wir wurden ja schon vor Monaten davon informiert, dass es in unserer Gemeinde Veränderungen auf der Leiterebene geben würde, aber jetzt ist es Realität geworden und wie das bei mir so ist, setzt der Trauerprozess erst jetzt ein.

Als wir damals aus Santiago de Chile wegzogen, war ich 14 und sehr tapfer. Meine Geschwister fanden den Gedanken an den Umzug ganz furchtbar, heulten und sagten, sie kämen dann einfach nicht mit, vor allem mein Bruder, der gutaussehend, sportlich, musikalisch, allgemein bekannt und beliebt war. Ich dagegen war nur bei den paar wenigen beliebt, die mich auch kannten. Dafür ging ich das Ganze sehr pragmatisch an, fand, okay, ich kann eh nichts dran ändern, wir ziehen um und das wird schon irgendwie gehen.

Nur, wer dann nach den ersten paar Monaten in der Schweiz heulte, war ich. Mein Bruder hatte (vermutlich durch den Sport) ganz schnell Anschluss (und Anerkennung) gefunden. Bei mir dauerte alles viel länger und erst als es darum ging sich in der Schweiz einzuleben, merkte ich, was mir in Chile alles gefallen hatte und was mir in der Schweiz fehlte.

An diese Zeit musste ich heute wieder denken. Es scheint für mich typisch zu sein, dass ich die Trauer über eine Veränderung erst dann so richtig empfinde, wenn es soweit ist und die Veränderung eingetreten ist. Vorher bin ich voller Hoffnung, dass es schon irgendwie gut gehen wird. Ich sehe die neuen Möglichkeiten, die sich auftun. Aber jetzt, wie damals, bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich das schaffe und überhaupt wollte. Trauer ist eben Trauer und tut weh. Da fehlt einem einen Moment lang die Hoffnung. Das kann man nicht einfach schönreden. Da muss man durch. Die Tränen müssen geheult werden. Die Traurigkeit muss ausgehalten und ausgestanden werden. Sonst ist es keine Trauer.

Und Trauer ist nicht schlecht. Trauer gehört zum Leben – wie Veränderungen auch. Und nicht jede Veränderung führt zu Trauer. Aber Veränderungen beinhalten oft Loslassen und das Loslassen kann dann zu Trauer führen. Und das ist gut so. Es gehört zum Prozess, es gehört zum Leben und darf in meinem Leben auch Raum haben. Wenn ich die Trauer zulasse, kann ich mich für Neues öffnen. Aber so weit bin ich noch nicht ganz. Die Trauer hat mich erst grad eingeholt und ich lasse sie erst mal zu.

Verzeihen macht stark

Darf ich vorstellen? Barbara, die die Schöne, Begabte und Starke! Da ich in den letzten Wochen über Trennungszeiten schrieb, schickte sie mir einige Texte, die sie dazu verfasst hatte und wow! ihre Texte haben mich umgehauen. Danke, Barbara, dass du dein Herz mit uns teilst.


 Verzeihen macht stark

Diese Worte habe ich damals aus der Zeitung ausgeschnitten, sie aufgeklebt und laminiert. Auch heute noch hänge ich sie immer wieder so auf, dass ich sie von meinem Bett aus gut sehen kann.

Die Psalmen sind voller Worte, die meinen Gefühlszustand treffend beschrieben: „ich bin welk, meine Gebeine sind bestürzt, meine Seele weigerte sich getröstet zu werden…“

Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass der Auslöser dafür, dass solche Worte zu meinen eigenen werden, der Mensch sein könnte mit dem ich mich am tiefsten und intimsten verbunden hatte, an dessen Seite ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Wie unendlich schmerzhaft war es, diesen mir vertrautesten aller Menschen als einen zu erleben, der mir „feind“ wurde durch sein Handeln. Ohne Zuflucht zu Gott zu nehmen, wie der Psalmist das vor seinen Feinden tat, hätte ich seelisch nicht überlebt. Ich war tödlich verwundet.

Das Schlimmste war der Verrat.

Meine Worte und Bilder dazu: “Die offene Wunde in mir ist so gross wie ein Wagenrad. Ich verstumme mit einem lodernden Feuer in mir, möchte mich verkriechen und nie mehr aufstehen. Ich bin lebensmüde…“

Von einem Freund liess ich mir sagen, dass Jesus auch Verrat am Kreuz getragen hat. Er wurde auch verraten – von einem seiner vertrautesten Freunde. Es hat ihn das Leben gekostet. Ich liess mir sagen, dass er mich deshalb versteht und ganz mitfühlen kann. Und, dass ich nicht daran zerbrechen muss, weil er auch den Verrat, den ich erlebt habe, getragen hat.
Ich liess es mir sagen. Ich habe mich immer wieder daran erinnert, es unter Tränen angenommen.

Über die Jahre nahm diese Wahrheit Gestalt an in mir. Ich bin zwar zerbrochen, aber nicht kaputt gegangen. Diese Wahrheit ist die Grundlage, auf der ich verzeihen konnte.

Und Verzeihen macht mich stark – und frei.

Nachtrag: Der Richter sagte, aus Sicht des Gerichtes sei unsere Scheidung eine „Wunschscheidung“: Alles anständig und einvernehmlich geregelt, keine Komplikationen.
So sah das von aussen aus.

– Barbara

Das Leben ist (zu) schwer

„Nach dem Mittagessen legte ich mich aufs Bett und weinte einfach. Ich weiss nicht, wann ich das zuletzt getan habe.

Ich weinte, weil das Leben schwer ist und weil es sich im Moment – eigentlich fast immer – zu schwer anfühlt.

Ich weinte, weil sich mein Leben auf eine gewisse Art abspielt: Ich habe eine Hoffnung auf die ich warte (das macht angeblich stark, toll, was?) und das finde ich extrem schwierig und mag so lange Wartezeiten ganz und gar nicht. Ausserdem verliere ich den Mut und heule dann los.

Letztes Jahr waren für mich die Finanzen eine Herausforderung. Dieses Jahr ist es eine Herausforderung meinen Glauben und meine Hoffnung nicht zu verlieren. Wenigstens muss ich mich nicht gleichzeitig mit beidem herumschlagen.

Irgendwie muss ich versuchen alles loszulassen, was mir jetzt zu schwierig erscheint. Und das ist auch schwierig.

Jetzt bin ich richtig müde (und meine Beine spüren all die tausend Stufen, die wir im Alpamare immer wieder hochgelaufen sind).

Ich brauche erlösende Gnade.“

Obwohl ich diese Worte im Februar 2013 geschrieben hatte, also noch ziemlich am Anfang des Jahres, haben sich die darin beschriebenen Gefühle und Gedanken, wie ein roter Faden durch das Jahr gezogen. Ich erlebte auch Schönes, kleine Höhepunkte (immerhin bin ich auf meiner Dankesliste schon bei Nr. 919 angekommen), Ruhezeiten, und kam doch immer wieder an den Punkt, an dem mir alles zu schwer und mir das Warten auf bessere Zeiten zu lang vorkam. Erst jetzt im Herbst fiel etwas von dieser Schwere von mir ab.

Das klingt jetzt sehr unfertig und das ist es auch. Ich bin immer noch am Hoffen und Warten, aber abgesehen von einer ziemlich permanenten Müdigkeit, die wohl daher kommt, dass ich drei Kinder grossziehe, arbeite und mich mit miesem Haushaltspersonal rumschlagen muss, geht es mir gut. Ich habe noch Hoffnung. Ich habe auch noch Glauben, dass einer über mir wacht, der es gut mit mir meint. Und das macht mein Herz sehr froh!

P.S.: Für alle, die Englisch verstehen: Die Band Tenth Avenue North drückt in ihrem Lied „Worn“ diesen Zustand von dem ich hier schreibe sehr gut aus: http://www.youtube.com/watch?v=zulKcYItKIA