Ein Gebet für mich und dich

Du, ja du, du mit dem Etikett ‚geschieden‘, ja, ich meine dich. Schau nach oben und lass die Tränen laufen. Atme tief ein und wieder aus.

Das Leben geht an dir vorbei, sagst du, denkst du, fühlst du. Keiner, der da ist, keiner, der versteht wie es sich anfühlt nur noch ein Halbes zu sein und trotzdem das Ganze tragen zu müssen, keiner, der dir einen Ehrenplatz anbietet, weil, was hast du schon zu bieten ausser ein Haufen Scherben.

Ich möchte dir heute, hier und jetzt, einen Platz frei machen. Möchte dich sehen, wie du gerade und stolz dein Haupt erhebst und weisst,

ich bin wertvoll

ich bin ganz

ich bin genug

ich bin wunderschön

ich bin stark

Alles wird gut, nicht weil du alles kannst und alles weisst und alles richtig machst. Nein, alles wird gut, weil es einen gibt, der nie aufgibt, der alles hält und sogar und besonders dich hält und erhält.

Der Plan für dein Leben war gut und ist immer noch gut. Der Plan hat sich nicht geändert, es ist auch kein neuer Plan da. Es ist der Plan, der schon immer da war. Ein Plan geprägt von Liebe und Geduld, von Barmherzigkeit und Gnade, ein Plan von einem freundlichen, liebevollen und ja, einem netten Gott. Das passt aber nicht zu all dem, was ich erlebt, erduldet und erlitten habe, schreit dein Herz. Das darf es auch schreien. Das soll es auch schreien. Und wenn es sich dann ausgeschrien hat, soll es ruhig werden, weil einer da ist, der grösser ist als alle Ungerechtigkeit, als alles Versagen, als alles Stolpern. Einer, der an dich glaubt und der immer noch an seinem Plan für dich festhält. Dein Herz weiss es, spürt es. Lass es zu.

Heute bete ich für dich. Dass mit jedem Einatmen ein Stück Würde zurückkommt. Mit jedem Ausatmen ein Stück Scham geht. Dass mit jedem Einatmen Vertrauen zunimmt. Mit jedem Ausatmen Verzweiflung schwindet.

„Du bist geliebt und gewollt. Du bist ein kostbares Kind“ heisst es in einem Lied und das gilt heute, hier und jetzt für dich. Es gilt für immer. Atme es ein.

Ein Abendgebet in zwei Teilen

Erster Teil meines Gebets:

„Vater im Himmel, ich fühle mich verloren, nicht geerdet, nicht verbunden, weder mit dir, noch mit den Menschen um mich herum, und mit mir selbst schon gar nicht. Ich habe mir in den letzten Tagen keine Ruhe mit dir gegönnt und jetzt fühle ich mich, als hätte ich mich nur von Snacks ernährt und keine vernünftige Mahlzeit gegessen. Ich fühle mich schwach und komisch. Und heute bin ich ganz allein selber daran schuld. Super.“

(20 Minuten später; den Kindern habe ich schon Gute Nacht gesagt)

Kaum nehme ich mir in der Ruhe des frisch gestrichenen und noch aufgeräumten Wohnzimmers Zeit im Liebesbrief meines himmlischen Vaters zu lesen, tauchen Fragen und Gedanken in meinem Kopf auf. Gute Fragen und gute Gedanken. Jetzt macht sich ein breites Lächeln auf meinem Gesicht breit. Das ist es was ich mag: Denken, Antworten suchen und dann das ganze in Worte zu kleiden.

Zweiter Teil meines Gebets:

„Ich danke dir, lieber Vater, für diesen Moment, für das Geschenk des Denkens und die Fähigkeit Gedanken in Worte zu kleiden. Ich liebe dich, Vater, und geh jetzt schlafen.“

Das sind wir alle

Alice: „Glaubst du, ich habe den Verstand verloren?“

Vater: „Ich fürchte, ja. Du bist übergeschnappt, hast eine Meise, bist nicht ganz bei Sinnen. Aber weißt du was? Das macht die Besten aus!“ (Alice im Wunderland)

 

Kürzlich im Supermarkt meines Vertrauens.

Eine Mutter: Zucchetti haben wir gern; suchen wir eine kleinere Packung.

Ihr Teenager-Sohn: Gell, ich bin immer noch psychisch krank?

Ich (nur in Gedanken): „Mein Lieber, vielleicht bist du noch psychisch krank, aber weisst du was? Das macht gar nichts. Wir haben alle irgendwo einen Sprung in der Schüssel. Einige verstecken es einfach etwas besser als andere.

Das Leben ist manchmal sehr hart und brutal. Was uns im Leben begegnet und womit wir fertig werden müssen, können wir selten steuern oder kontrollieren. Manchmal müssen wir lernen mit einer Not zu leben. Manchen Menschen gelingt das einigermassen, anderen gelingt es gar nicht und sie brauchen Hilfe und Werkzeuge, um überhaupt zu überleben. Das kann eine Klinik sein, ein Medikament oder es können auch andere Menschen sein, die jemanden auffangen und tragen. Aber so ganz alleine gelingt es uns, glaube ich zumindest, nicht wirklich.

Manchmal wird einem alles zu viel. Pubertät, Entscheidungen, Beziehungen, Familie, Schicksale. Das Leben ist nicht einfach und wird auch mit dem Alter nicht wirklich einfacher. Manchmal findet man nicht mehr alleine aus dem Nebel heraus. Manche Menschen verdrängen oder betäuben die Not, was aber langfristig nicht hilfreich ist. Oft sind die „kranken“ Menschen diejenigen, die auf das reagieren, was in der Welt krank ist. Sie sind „zu sensibel“. Es ist auch wirklich schwierig eine Not oder einen Schmerz auszuhalten und kann uns krank machen.

Vor allem aber brauchen wir einander. Wir können einander den Rücken stärken und einander in Verständnis begegnen. Wir können die Messlatte etwas tiefer ansetzen und Menschen Raum zum Atmen geben, Fesseln lösen und vermitteln: Ich seh dich. Du bist gut genug. Du bist wertvoll. Du bist geliebt. Ich mag dich.“

Am liebsten hätte ich den Jungen umarmt, aber das macht man hier nicht so und ich bin für so etwas auch viel zu schüchtern. Aber im Herzen hab ich ihn ganz fest gedrückt.

Alice: „Glaubst du, ich habe den Verstand verloren?“

Vater: „Ich fürchte, ja. Du bist übergeschnappt, hast eine Meise, bist nicht ganz bei Sinnen. Aber weißt du was? Das macht die Besten aus!“ (Alice im Wunderland)

Meine Eltern

Es war eigentlich ganz unspektakulär und harmlos.

Sven hatte sich spontan Spargeln gewünscht und weil wir zwei zum Essen allein waren und er erst seit kurzem überhaupt Spargel isst, erfüllte ich ihm doch gerne diesen Wunsch. Also schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr die kurze Strecke zum Supermarkt. Dabei musste ich auf halben Weg wieder umkehren, da ich meinen Schlüssel vergessen hatte und ich diesem Quartier, so gern ich es habe, nicht traue, wenn es um ein nicht abgeschlossenes Fahrrad geht. Ich durfte das Fahrrad erst vor kurzem von einer Freundin übernehmen und wollte das Schicksal nicht herausfordern.

Ich schnappte mir also einen Bund Spargel, noch einen Salat und Vanille-Jogurt für die Kinder, die keine Fruchtstücken in ihrem Jogurt mögen (woher haben die das nur?) und stand mit gefühlten 50 Leuten an der Kasse. Es dauerte. Also fing ich an die Leute vor mir zu beobachten: eine Frau, etwas jünger als ich, in Begleitung eines älteren Ehepaars, vermutlich ihre Eltern. Sie redeten ganz vertraut auf Italienisch mit einander und ich verstand nur ganz wenig. Endlich waren sie dran und die Frau hatte bereits ihr Portemonnaie in der Hand. Der ältere Herr nahm sein Portemonnaie ebenfalls in die Hand und sagte etwas, was ich nicht verstand. Die Frau schüttelte mit dem Kopf und auch ohne Italienisch zu verstehen, wusste ich sofort, was da los war. Er wollte den Einkauf bezahlen, aber sie bestand darauf selber zu zahlen. Stattdessen drückte sie ihm die Einkaufstüte in die Hand und es war klar, dass er den Einkauf darin einpacken sollte. Es gab noch ein kleines Hin und Her bevor er sein Portemonnaie wieder einsteckte. Und plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, schossen mir die Tränen in die Augen. Diese Situation an der Kasse mit den Eltern war mir so vertraut. Und sie fehlen mir, meine Eltern.

Vor mir spielte sich etwas ab, was die Liebe der Eltern für mich einen Moment lang sichtbar werden liess: Ein Vater, der seiner längst erwachsenen und vermutlich gut verdienenden Tochter den Einkauf bezahlten wollte. Und ich vermisste meine Eltern, die das so oft getan hatten, wobei es mir in jenem Moment gar nicht darum ging, dass jemand meinen Einkauf bezahlt, sondern einfach um das Herz und den sichtbaren Ausdruck der Elternliebe. Ich vermisste meinen Vater, der, wenn meine Eltern uns besuchten, so oft früh morgens in diesem Supermarkt Gipfeli zum Frühstück gekauft hat, meine Mutter, die immer so fein für uns gekocht hat, egal, ob in ihrer oder meiner Küche.

Mein Vater kann keine Gipfeli mehr für uns kaufen. Sein Kopf ist so voller „Honig“*, dass da alles etwas durcheinander geraten ist. Meine Mutter kocht jetzt noch für uns, wenn wir auf Besuch sind (und erfüllt meinen Kindern viele Wünsche…Shopping in Amerika, muss man dazu noch was sagen?). Und wenn wir uns sehen, ob dort in Amerika oder auf FaceTime, spüre ich ganz deutlich diese Liebe, zu mir, ihrer Tochter, zu meinen Kindern, ihren Enkeln. Honig hin oder her, die Liebe ist da und sie ist spürbar, sie ist tief in meinem Herzen. Und meine Mutter ist eine Heldin, wie sie den Alltag meistert und sich ein frohes, zuversichtliches Herz bewahrt. So will ich auch alt werden. Und ja nicht knauserig werden mit der Liebe.

Ich konnte die Tränen an der Kasse gerade noch zurück halten, aber als ich wieder bei meinem Fahrrad stand, schluchzte ich laut los. Manchmal erwischt es einen eiskalt.

*“Honig im Kopf“ ein unterhaltsamer und berührender Film von Til Schweiger, der sich mit dem Thema Alzheimer auseinandersetzt; sehr empfehlenswert.