Was haben die Seligpreisungen mit mir zu tun?

Gott segnet die, die arm* sind vor Gott

… aber wir wollen uns keine Blösse geben und viel lieber geistliche Riesen sein.

Gott segnet die, die trauern

…aber wir wollen feiern und lieber nicht über das reden, was uns traurig macht.

Gott segnet die Sanftmütigen

…aber wir wollen lieber unsere Meinung sagen und uns selbst verteidigen.

Gott segnet die, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten

…aber wir sagen, dass die Menschen in schwierigen Lebenssituationen nur das bekommen, was sie verdient haben.

Gott segnet die Barmherzigen

…aber wir wollen ganz, ganz sicher sein, dass das Gesetz Gottes bis auf’s i-Tüpfelchen eingehalten wird (wo kämen wir denn sonst hin?!).

Gott segnet die, die ein reines Herz haben

…aber für uns muss der äussere Schein unbedingt stimmen.

Gott segnet die, die sich um Frieden bemühen

…aber wir bemühen uns nur um Frieden mit denen, die so denken und handeln wie wir.

Gott segnet die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden

…aber wir werden verfolgt, weil wir unklug sind.

 

Leute, ich muss noch viel lernen.

 

* Was bedeutet dieses ‚arm‘ sein vor Gott? Weil ich das lange nicht verstanden habe, gebe ich euch die Erklärung weiter, die ich verstanden habe: Es bedeutet so zu sein, wie das Volk Israel in Ägypten war, nämlich, versklavt, gefangen, unterdrückt, krank, mittellos, fern von Gottes Absichten für sie als Volk. Man glaubt es kaum, aber denen ist Gott nah. Das waren Gottes Leute. Genau dieses Volk wollte er zu einem sicheren und guten Ort führen. Genau diese Leute wollte er segnen und sie gebrauchen, damit sie anderen Gutes tun könnten und damit andere sehen und erleben, wie er ist. Dieser Gott ist erstaunlich. Sucht sich die Schwachen aus. (Jetzt dürft ihr mal tief durchatmen. Ja, er meint auch dich. Und ich gebe zu, dass ich es selber immer wieder vergesse, dass er mich trotzdem meint, gerade wenn ich mich schwach und nutzlos fühle. Deshalb schreibe ich das alles ja eigentlich, um mich selber daran zu erinnern.)

Meine Eltern

Es war eigentlich ganz unspektakulär und harmlos.

Sven hatte sich spontan Spargeln gewünscht und weil wir zwei zum Essen allein waren und er erst seit kurzem überhaupt Spargel isst, erfüllte ich ihm doch gerne diesen Wunsch. Also schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr die kurze Strecke zum Supermarkt. Dabei musste ich auf halben Weg wieder umkehren, da ich meinen Schlüssel vergessen hatte und ich diesem Quartier, so gern ich es habe, nicht traue, wenn es um ein nicht abgeschlossenes Fahrrad geht. Ich durfte das Fahrrad erst vor kurzem von einer Freundin übernehmen und wollte das Schicksal nicht herausfordern.

Ich schnappte mir also einen Bund Spargel, noch einen Salat und Vanille-Jogurt für die Kinder, die keine Fruchtstücken in ihrem Jogurt mögen (woher haben die das nur?) und stand mit gefühlten 50 Leuten an der Kasse. Es dauerte. Also fing ich an die Leute vor mir zu beobachten: eine Frau, etwas jünger als ich, in Begleitung eines älteren Ehepaars, vermutlich ihre Eltern. Sie redeten ganz vertraut auf Italienisch mit einander und ich verstand nur ganz wenig. Endlich waren sie dran und die Frau hatte bereits ihr Portemonnaie in der Hand. Der ältere Herr nahm sein Portemonnaie ebenfalls in die Hand und sagte etwas, was ich nicht verstand. Die Frau schüttelte mit dem Kopf und auch ohne Italienisch zu verstehen, wusste ich sofort, was da los war. Er wollte den Einkauf bezahlen, aber sie bestand darauf selber zu zahlen. Stattdessen drückte sie ihm die Einkaufstüte in die Hand und es war klar, dass er den Einkauf darin einpacken sollte. Es gab noch ein kleines Hin und Her bevor er sein Portemonnaie wieder einsteckte. Und plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, schossen mir die Tränen in die Augen. Diese Situation an der Kasse mit den Eltern war mir so vertraut. Und sie fehlen mir, meine Eltern.

Vor mir spielte sich etwas ab, was die Liebe der Eltern für mich einen Moment lang sichtbar werden liess: Ein Vater, der seiner längst erwachsenen und vermutlich gut verdienenden Tochter den Einkauf bezahlten wollte. Und ich vermisste meine Eltern, die das so oft getan hatten, wobei es mir in jenem Moment gar nicht darum ging, dass jemand meinen Einkauf bezahlt, sondern einfach um das Herz und den sichtbaren Ausdruck der Elternliebe. Ich vermisste meinen Vater, der, wenn meine Eltern uns besuchten, so oft früh morgens in diesem Supermarkt Gipfeli zum Frühstück gekauft hat, meine Mutter, die immer so fein für uns gekocht hat, egal, ob in ihrer oder meiner Küche.

Mein Vater kann keine Gipfeli mehr für uns kaufen. Sein Kopf ist so voller „Honig“*, dass da alles etwas durcheinander geraten ist. Meine Mutter kocht jetzt noch für uns, wenn wir auf Besuch sind (und erfüllt meinen Kindern viele Wünsche…Shopping in Amerika, muss man dazu noch was sagen?). Und wenn wir uns sehen, ob dort in Amerika oder auf FaceTime, spüre ich ganz deutlich diese Liebe, zu mir, ihrer Tochter, zu meinen Kindern, ihren Enkeln. Honig hin oder her, die Liebe ist da und sie ist spürbar, sie ist tief in meinem Herzen. Und meine Mutter ist eine Heldin, wie sie den Alltag meistert und sich ein frohes, zuversichtliches Herz bewahrt. So will ich auch alt werden. Und ja nicht knauserig werden mit der Liebe.

Ich konnte die Tränen an der Kasse gerade noch zurück halten, aber als ich wieder bei meinem Fahrrad stand, schluchzte ich laut los. Manchmal erwischt es einen eiskalt.

*“Honig im Kopf“ ein unterhaltsamer und berührender Film von Til Schweiger, der sich mit dem Thema Alzheimer auseinandersetzt; sehr empfehlenswert.

Veränderungen

Veränderungen sind nicht so mein Ding.

Das macht ein neues Jahr nicht immer einfach und gerade in diesem Jahr kommen ein paar Veränderungen auf mich zu. Als erstes gibt es in unserer Gemeinde Veränderungen: Ab Januar ein neuer Leiter, eine neue Leiterin. Dann für unsere Familie, spätestens ab September: eine neue Wohnung.

Es ist ja nicht so, dass ich mit Veränderungen keine Erfahrung habe: Ich habe in drei Ländern auf verschiedenen Kontinenten gelebt; meine Schulbildung war nacheinander in drei verschiedenen Sprachen; ich bin bisher 16 Mal umgezogen. (Die bald 15 Jahre in der jetzigen Wohnung sind ein richtiger Rekord und haben mir und meiner Seele gut getan.)

Wir wurden ja schon vor Monaten davon informiert, dass es in unserer Gemeinde Veränderungen auf der Leiterebene geben würde, aber jetzt ist es Realität geworden und wie das bei mir so ist, setzt der Trauerprozess erst jetzt ein.

Als wir damals aus Santiago de Chile wegzogen, war ich 14 und sehr tapfer. Meine Geschwister fanden den Gedanken an den Umzug ganz furchtbar, heulten und sagten, sie kämen dann einfach nicht mit, vor allem mein Bruder, der gutaussehend, sportlich, musikalisch, allgemein bekannt und beliebt war. Ich dagegen war nur bei den paar wenigen beliebt, die mich auch kannten. Dafür ging ich das Ganze sehr pragmatisch an, fand, okay, ich kann eh nichts dran ändern, wir ziehen um und das wird schon irgendwie gehen.

Nur, wer dann nach den ersten paar Monaten in der Schweiz heulte, war ich. Mein Bruder hatte (vermutlich durch den Sport) ganz schnell Anschluss (und Anerkennung) gefunden. Bei mir dauerte alles viel länger und erst als es darum ging sich in der Schweiz einzuleben, merkte ich, was mir in Chile alles gefallen hatte und was mir in der Schweiz fehlte.

An diese Zeit musste ich heute wieder denken. Es scheint für mich typisch zu sein, dass ich die Trauer über eine Veränderung erst dann so richtig empfinde, wenn es soweit ist und die Veränderung eingetreten ist. Vorher bin ich voller Hoffnung, dass es schon irgendwie gut gehen wird. Ich sehe die neuen Möglichkeiten, die sich auftun. Aber jetzt, wie damals, bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich das schaffe und überhaupt wollte. Trauer ist eben Trauer und tut weh. Da fehlt einem einen Moment lang die Hoffnung. Das kann man nicht einfach schönreden. Da muss man durch. Die Tränen müssen geheult werden. Die Traurigkeit muss ausgehalten und ausgestanden werden. Sonst ist es keine Trauer.

Und Trauer ist nicht schlecht. Trauer gehört zum Leben – wie Veränderungen auch. Und nicht jede Veränderung führt zu Trauer. Aber Veränderungen beinhalten oft Loslassen und das Loslassen kann dann zu Trauer führen. Und das ist gut so. Es gehört zum Prozess, es gehört zum Leben und darf in meinem Leben auch Raum haben. Wenn ich die Trauer zulasse, kann ich mich für Neues öffnen. Aber so weit bin ich noch nicht ganz. Die Trauer hat mich erst grad eingeholt und ich lasse sie erst mal zu.