„Nur noch kurz die Welt retten“

„Nur noch kurz die Welt retten“. Habt ihr das Lied auch schon gehört? (Ich liebe diese Art von ehrlicher Musik.) Wir wollen doch alle irgendwie die Welt retten und nehmen uns dabei oft so viel wichtiger als die Welt. Und wir laufen Gefahr die wirklich wichtigen Momente zu verpassen.

Wenn Jesus Musiker gewesen wäre, hätte er vielleicht auch so ein Lied geschrieben. Er war aber ein Geschichtenerzähler und erzählte einmal darüber, wie ein Geschäftsmann ausgeraubt und zusammengeschlagen wurde. Als er halb tot am Wegrand lag, kamen zwar ein paar Geistliche an ihm vorbei, liessen ihn aber in seinem Elend da liegen, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren „die Welt zu retten“. Das fand Jesus gar nicht toll (er hatte generell sehr grosse Mühe mit den Menschen, die ihre Geistlichkeit zur Schau stellten und deren Worte nicht mit ihrer Art zu leben übereinstimmten. Alles nur Geplapper, sagte er dann).

Ich muss gar nicht weit gehen, um meine Welt zu retten. Ich muss nur das tun, was vor meinen Füssen liegt. Für mich bedeutet es im Moment mich vor allem mit meinen Kindern abzugeben. Ich habe beschlossen, dass sich diese Investition lohnt. Also, höre ich ihnen zu, wenn der Tag in der Schule mega sch… war (Originalton Kristina :)). Spreche ihnen Mut zu, wenn sie an sich zweifeln. Übe das Ein-Mal-Eins, bis Sven es im Schlaf schon rückwärts kann. Erkläre Jana ganz genau welches Tram sie wohin nehmen muss. Kurz, ich teile das Leben mit ihnen. Das klingt so nicht aufregend. So alltäglich. Schon fast langweilig. Aber wenn wir davon ausgehen, dass jeder Mensch eine Welt ist, rette ich nicht nur täglich eine Welt, sondern gleich drei! Das klingt schon wesentlich aufregender. Und eigentlich bin ich ja froh, dass meine Nächsten so nah sind!

Link zu YouTube Lied: http://www.youtube.com/watch?v=4BAKb2p450Q

Die Geschichte von Jesus kann man in der Bibel nachlesen (im Neuen Testament unter Lukas Kapitel 10 Verse 30 bis 36 zu finden).

Die Frage

„Hat er diese Dummheit machen müssen, nur damit ich daran lerne und wachse? – Ist das die Entschuldigung für sein Verhalten?“

Die Verzweiflung meiner Freundin war gross. Sie war durch das Verhalten ihres Mannes tief verletzt worden und rang mit den vielen Gefühlen, die einem in so einem Moment durchfluten und die man versucht zu sortieren und zu verstehen. Ich wollte helfen, trösten, hatte aber keine spontane Antwort auf ihre Frage, die mich noch jahrelang beschäftigen sollte. (Und überhaupt, was weiss ich schon?)

Der Wortlaut dieser Frage ändert sich je nach Situation immer wieder, aber am Ende stellt sich im Grunde immer die Frage: Müssen wir schlechte Entscheidungen treffen oder müssen andere an uns schuldig werden, bevor wir uns verändern lassen und zu reiferen Persönlichkeiten werden? (Und wo, bitte, ist Gott in all dem drin?)

Die Antwort auf diese Frage ist nein, davon bin ich heute überzeugt. Unsere persönliche Entwicklung hängt nicht vom Verhalten anderer Menschen ab. Die Entschuldigung für ihre schlechten Entscheidungen liegt nicht darin, dass wir dadurch zu besseren Menschen werden.

Wir können jedoch davon profitieren, da wir alle früher oder später in unserem Leben mit Dingen konfrontiert werden, die uns herausfordern über uns selbst hinauszuwachsen – unser Charakter wird geschliffen, wir werden vor die Wahl gestellt, aus unseren Prinzipien und nicht aus verletzten Gefühlen heraus auf Brüskierungen zu reagieren. Dadurch werden wir barmherziger und gnädiger, wir wachsen in die Tiefe, machen Platz für Neues.

Diese Herausforderung kann durch eine Person oder durch Umstände eintreten, die wir nicht kontrollieren können: Naturkatastrophen, menschliches Versagen, Ablehnung oder schlichte Gemeinheit und die Unreife anderer Menschen. Manche von uns kämpfen mit inneren Dämonen, Verprägungen, falsche Denkmuster.

In dieser Frage geht es viel weniger darum wer Schuld ist (mal ehrlich, was habe ich davon, wenn ich das weiss, ausser dass ich noch selbstgerechter werde), sondern viel mehr um meine Reaktion darauf. Ob und wie ich mich diesen Herausforderungen stelle, ist mir selbst überlassen und auch meine alleinige Verantwortung.

Den Schmerz von Verrat oder Verlust zu erleben, wird entweder etwas Positives oder etwas Negatives ins uns hervorbringen – etwas wird es auf jeden Fall hervorbringen und ohne Entscheidung für das Positive wird das Negative schnell die Oberhand gewinnen. Diese Entscheidung ist ganz und gar unabhängig davon wer an der ganzen Misere Schuld ist.

Das scheint nicht immer fair zu sein, aber wer sagt, dass das Leben fair ist? Ist es nicht. Das Leben ist das Leben: unfair, kompliziert, chaotisch, verwirrend, laut und manchmal leise, vergebend, zart, herrlich und wunderschön. Dafür – das Leben in der ganzen Fülle zu erleben – entscheide ich mich jeden Tag neu.

(In diesen Gedanken geht es nicht um unser Verhalten in einer Situation in der wir Missbrauch erleben.)