Liebe an der Langstrasse

Kürzlich war ich an der Langstrasse und war zutiefst berührt. Was mich berührte, war jedoch nicht die Langstrasse – das Milieu – in Zürich, es waren die Menschen. Und Menschen hat es dort jede Menge – in allen Farben und Formen und von jeder Sorte.

Ich besuchte die „Kunst im Milieu“-Bilderaustellung von Dorothée Widmer in den Räumlichkeiten von Heartwings (www.heartwings.ch) und habe auch ihren Mann, Peter, kennengelernt. Ich hatte ihn an einer Geburtstagparty-Hochzeit (eine wunderbare Geschichte für sich) reden hören und wusste, ich will (muss) diese Bilderausstellung besuchen.

Ich wurde nicht enttäuscht. Im Gegenteil, immer wenn ich daran denke oder davon erzähle, was ich dort gesehen und gehört habe, bekomme ich feuchte Augen. Was hat mich dort so berührt? Nein, es war nicht der Schrecken und die Gesetzlosigkeit von Menschenhandel. Es war nicht die Gefangenschaft und Hoffnungslosigkeit von Frauen, die gegen ihren Willen oder schlicht zum Überleben anschaffen müssen. Es war nicht die Verloren- und Zerbrochenheit der Freier und Zuhälter und auch nicht die ausdrucksstarken Bilder von Dorothée oder die Geschichten von Menschen, die Dorothée und Peter begleiten – obwohl das auch alles seine Berechtigung hätte und mich, ehrlich gesagt, auch berührt hat.

Was mich noch tiefer als das Elend berührte, war die grosse Freude und tiefe Liebe von Dorothée und Peter. Zu einander, ja, zu Gott auch, aber auch in einem gewaltigem Mass zur Langstrasse und damit meine ich nicht nur den Ort. Sie haben eine tiefe Überzeugung, dass Gott gross genug, es ihm wichtig genug und jeder einzelne Mensch dort wertvoll genug ist, um an der Langstrasse zu erscheinen und die Menschen dort in ein freies Leben zu führen. Diese Überzeugung durchdringt jede Pore ihres Seins und strömt förmlich aus ihnen heraus. Diese Liebe ist so echt und so authentisch, dass man sich ihr nur schwer widersetzen kann, was jede und jeder merkt, der mit Dorothée und Peter und ihren Heartwings-Mitarbeitern in Berührung kommt. Menschen an der Langstrasse werden geliebt, wie sie sind; weil Gott die Welt liebt, wie sie ist. Die Welt musste sich nicht zuerst ändern und anpassen oder fromm und schicklich werden, bevor Gott seine Liebe in einen zerbrechlichen und endlichen Körper mit Herz, Haut und Haar packte und auf diese Erde schickte.

Da war nämlich mal einer, der setzte sich mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch.

Da war mal einer, der verurteilte die Ehebrecherin nicht.

Da war einer, der vergab sogar einem Verbrecher.

Er liebt immer noch. Echt und authentisch. Nicht nur mit Worten, sondern mit Taten. Mit Gefühlen. Mit Geschichten und konkreter Hilfe.

Was ich an der Langstrasse gesehen habe, ist ein Ausdruck dieser Liebe, wie ich sie nur an wenigen Orten sonst entdeckt habe. Diese Liebe leuchtet den Weg in die Freiheit. Sie befreit. Sie heilt. Sie gibt alles – genauso wie es ein besonderer Mann aus dem Nahen Osten damals tat. Ist das vielleicht Grund genug auch so zu lieben?

Vitiligo

Ich habe Vitiligo. Vitiligo ist ein Hautleiden. Ich muss an dieser Stelle gleich anmerken, dass ich nicht wirklich darunter leide, zumindest nicht physisch. Typisch für Vitiligo sind Pigmentstörungen in Form weißer, pigmentfreier Hautflecken, die sich ausweiten können, aber nicht unbedingt müssen. (Alles Weitere könnt ihr googeln.)

Als ich drei Jahre alt war, entdeckten meine Eltern den ersten weissen Fleck an meinem Bauch. Die Flecken sind über die Jahre gekommen, gegangen, dann immer mehr und grösser geworden und jetzt im Sommer, wo sich die gesunde Haut bräunt, fallen die weissen Flecken richtig gut auf.

Ich komme zurück auf das Leiden. Ich sagte, mein Leiden sei nicht physisch. Und doch ist es nicht ganz ohne eine so sichtbar auffallende Hautkrankheit zu haben. Als Teenager habe ich mich für meine weissen Knie geschämt. Und als ich mich endlich mit etwa 30 an die Flecken an meinem Körper gewöhnt hatte, wurden die Flecken in meinem Gesicht immer grösser und mehr. Das steckt eine Frau (und wohl auch mancher Mann) nicht einfach so weg. Auch nicht wenn alle sagen, es sei ja nur äusserlich und meine Familie und engsten Freunde mir bestätigen, dass sie es schon gar nicht mehr wahrnehmen.

Ich war sehr erleichtert, als ich vor einigen Jahren stark deckendes Camouflage Make-Up kennengelernte, welches viel besser abdeckt und haftet als normales Make-Up. Seither schminke ich mich jeden Tag und bekomme von Leuten, die nicht wissen, dass ich im Gesicht Flecken habe, zu hören: „Zum Glück hast du keine Flecken im Gesicht!“, worauf ich sie dann meistens aufkläre und sie mein Gesicht ungläubig mustern.

Ich denke oft, dass es uns im Umgang miteinander nicht viel anders geht. Wir gehen davon aus, dass es unseren Mitmenschen so gut geht, wie sie aussehen. Aber vielleicht ist es nur die Schminke, die gut aussieht. Vielleicht versteckt sich unter der Schminke ein weisser Fleck, ein Leiden, eine kranke Ehe, die Sorge um ein problematisches Kind, eine scheidungsbedingte Armut, ein Versagen, eine Sucht, eine Verzweiflung (die Liste lässt sich endlos weiterführen). Aber wir lassen uns von der Schminke blenden und überdecken unsere eignen weissen Flecken selber auch tüchtig mit Schminke.

Dieses „Sich-etwas-vorspielen“ führt zu zwei negativen Auswüchsen. Erstens, leben wir nicht authentisch und zweitens, rauben wir allen anderen die Möglichkeit uns dort zu begegnen, wo eine Beziehung echt wird. Das heisst, keiner, weder wir noch die anderen, können das leben, wozu wir bestimmt sind und wonach wir uns sehnen, nämlich Gemeinschaft.

Dabei machen uns unsere Fehler, unsere Schwächen und Grenzen gerade menschlich und nahbar. Was mich an anderen Menschen anzieht, ist nicht ihr Superhelden-Gehabe, ihr perfektes „Ich-hab’s-ja-so-im-Griff“-Leben oder ihr geistliches Übertünchen aller zerbrochenen Menschlichkeit. Ich werde vielmehr von dem angezogen, womit ich mich identifizieren kann, also ihren Schwächen, ihren Fehler und ihren Grenzen, gerade weil ich meine Schwächen, Fehler und Grenzen kenne. Da kann ich mitreden. Ich werde mich nicht mit deinem perfekten Familienleben identifizieren können. Da wird zwischen uns nichts entstehen. Aber wenn ich höre, wie es wirklich mit deinem Teenager läuft und wie du dich dabei fühlst, werden wir beide zusammen darüber lachen (oder weinen) können und ich werde merken, dass ich nicht allein bin. Das tut meiner Seele gut.

Vor ein paar Jahren traf ich ein etwa 6-jähriges Mädchen, deren ganzer Körper so stark von Vitiligo betroffen war, dass es aussah, als habe sie dunkle Flecken, statt weisse. Plötzlich merkte sie, dass ich auch weisse Flecken hatte und schloss mich sofort in ihr Herz. Wo sie mich vorher kaum beachtet hatte, schwirrte sie nun um mich her, erzählte von ihrem Bruder, zeigte mir Fotos und war ganz einfach daran interessiert ihr Leben mit mir zu teilen. Ohne viele Worte darüber zu machen, wusste das kleine Mädchen, dass ich sie verstand. Zum ersten Mal war ich froh um meine Flecken. Meine Flecken gehören zu mir, wie meine Erfolge und Misserfolge. Sie haben mich und meine Geschichte geprägt und mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Sie haben mir sogar die Türen zu einem anderen Herzen geöffnet. Wenn das nicht was wert ist!