Du bist nicht allein (Gott wird Mensch)

„Du bist nicht allein.“

Das höre ich gern und muss es auch hören, aber was genau bedeutet es, wenn ich doch den grössten Teil meiner Tage, eben, allein verbringe, die meisten Entscheidungen doch alleine treffe, meinen Schmerz, meine Fragen, meine Unsicherheit, usw. alleine tragen muss.

Ja aber, werden die einen sagen, Gott…er ist doch da. Ja aber, werde ich darauf antworten, ich sehe ihn nicht, ich spür ihn nicht, und manchmal wenn alles schief geht, merke ich nicht einmal ansatzweise, dass er da ist. Und ich frage mich, muss das reichen? Muss es mir genügen, zu wissen und nicht zu spüren, dass Gott bei mir ist? Ist das die Antwort auf meine Einsamkeit, auf meine Fragen, auf meinen Schmerz, auf meine Last?

Ich weiss nicht, wie es dir damit geht, aber für mich muss Glaube und Vertrauen etwas mehr erlebbar sein, als nur im Kopf zu wissen, dass da ein Gott an meiner Seite ist. Wenn da schon ein Gott an meiner Seite ist, muss es doch irgendwas Greifbares geben. So stelle ich mir das wenigstens vor.

Ich will „du bist nicht allein“ erleben, nicht nur wissen.

Es gibt diese Momente in denen ich „du bist nicht allein“ ganz praktisch erlebe. Das geschieht im Austausch mit anderen Menschen, die sich Zeit nehmen mir zuzuhören, die meine Anliegen, meine Freude, aus meinem Erzählen heraushören, ernst nehmen und darauf reagieren, sei es mit ihrem Mitgehen, mit Antworten, praktischer Hilfe, einer Nachricht auf Facebook oder per Whats App (weil wir ja heute diese Möglichkeiten haben). Ich erlebe Gottes Nähe und Dasein in deiner Hand auf meiner Schulter, in deiner Umarmung, in deinem Lächeln, in deinem Nachfragen und in deinen freundlichen Worten.

Das wiederum ermutigt mich selber die Hand zu reichen, die Umarmung, das Lächeln, die ermutigende Worte und immer wieder Zeit zu schenken. Diese Geschenke sind grösser als die Verpackung. Wir schenken Würde – und wie will man das sonst verpacken? Schon immer waren wir es Gott wert, dass er sich in Fleisch und Blut einpackte, in ein greifbares Menschlein. Wir sind es heute immer noch wert!

So wird Gott immer wieder Mensch. Und ich bin nicht allein.

Trennungszeit 7

Vor ein paar Monaten las ich in einer christlichen Familienzeitschrift einen Artikel darüber, wie man seinen Freunden, die eine Trennung oder Scheidung erleben, zur Seite stehen kann und auch was man als Aussenstehender, der sich richtig verhalten möchte, vermeiden sollte. Es war ein guter Artikel und ich wünschte, ich hätte diesen tollen Artikel geschrieben. Dabei fing ich wieder an über meine Erlebnisse nachzudenken. Ich bin kein Experte in Sachen Beziehung, Trennung und Scheidung. Ich greife nur auf meine eigenen Erfahrungen zurück und versuche Einblicke zu geben, damit wir miteinander gnädiger umgehen und weniger schnell urteilen. Mir liegt dieses Thema auf dem Herzen, weil ich sehr schöne, aber auch sehr schwierige Begegnungen erlebt habe. Wer weiss nämlich schon, wie er reagieren soll, wenn man die Nachricht bekommt, dass sich Freunde trennen!

Ich habe es sehr geschätzt – und schätze es immer noch – wenn meine Entscheidung zur Trennung und später zur Scheidung respektiert wird. Obwohl die Trennung damals sehr plötzlich kam, gab es eine jahrelange Vorgeschichte. Das ist vermutlich bei den meisten Paaren der Fall. Bei uns fingen die Vertrauensmissbräuche schon bald nach der Hochzeit an. Ich hatte nach zehn Jahren einfach keine Kraft mehr aus dem Nichts wieder Vertrauen hervor zu zaubern. Für mich war nach zehn Jahren Ehe, zwei Jahren begleiteten Gespräche und zwei weiteren Jahren, die ich brauchte, um mich zu einer Scheidung durchzuringen, der Punkt erreicht, wo es um das Überleben meiner Seele ging. Bei manchen geht der Prozess schneller, bei manchen, wie bei mir, länger. Aber immer gibt es einen grossen Teil der Geschichte, den Aussenstehende nicht mitbekommen.

Während meine Ehe offiziell am Scheitern war, fühlte ich mich sehr verwundbar und verletzlich. Alles war am Wanken. Mein Vertrauen in die Institution Ehe, in Gott, in mich und auch in die Männer stand auf wackeligen Füssen. Wenn mir Menschen dann mitten in dieser emotional herausfordernden Zeit sagten, dass sie hinter mir standen – wohlgemerkt ohne die ganze Geschichte zu kennen und ohne, dass ich mich für meine Entscheidungen rechtfertigen musste – gaben sie mir etwas zurück, was mir langsam, aber sicher abhanden kam: Vertrauen und Wert. Das war für meine seelische Gesundheit sehr wichtig.

Was mich im Gegenzug sehr befremdete, waren Menschen, die mich nach den Gründen für die Trennung/Scheidung ausfragten, obwohl sie mir nicht besonders nahe standen. (Leider kam das auch vor. Es gibt besonders in den christlich-frommen Kreisen auf diesem Gebiet noch Lernpotenzial.) Ich musste lernen zu meinem Schutz eine Grenze zu ziehen und dazu zu stehen. Erst kürzlich legte ich mir eine Antwort zurecht, falls ich wieder mit einer grenzüberschreitenden Frage konfrontiert werde; weil, ja, es passiert heute noch. Manche wollten von mir hören, wie schlecht es den Kindern ging, seit ihr Vater nicht mehr bei uns wohnt… Das hat mich noch mehr deprimiert, als ich es ohnehin schon war und zeugt von ganz wenig Gottvertrauen.

Mit guten Freunden redete ich über meine Situation, aber ich wollte mit meinen Freunden keine Therapiestunde und auch keine schlauen Ratschläge. Ich wollte sein. Ich wollte die Freiheit haben zu reden, wenn mir drum war und wollte nicht reden müssen, nur weil jemand über alles informiert sein wollte. Da mich die Beratungen sehr viel Energie kosteten, brauchte ich Zeiten in denen ich mich erholen konnte. Da haben mir Freunde gut getan, die mit mir ins Kino gingen, mich mit oder ohne Kinder in die Ferien mitnahmen, meine Kinder ein paar Stunden lang betreuten, Blumen vorbeibrachten oder mich auf ein Bier einluden (ja, das kam auch vor!). Die Unterstützung in praktischen Dingen, wie schwere Gartenarbeit, die Reparatur vom Treppengeländer, das Auto für die Motorfahrzeugprüfung vorzubereiten, die verstopften Abflüsse durchzuspülen, kann ich gar nicht genug betonen. In den Zeiten meiner grössten seelischen Belastung trugen diese Freunde mit ihrer praktischen Hilfe zu meiner Entlastung bei. Und wie das geholfen hat!

Ich fühlte mich oft als Aussenseiterin. Ich war als Geschiedene in meinem Umfeld auf weiter Flur allein. Ausserdem trug das Wort Scheidung für mich ein gewisses Stigma: Ich gehöre zu denen, die es nicht geschafft haben. Alle wissen über mein Scheitern Bescheid, aber ich weiss nichts über sie und über ihr Scheitern (Scheitern tun wir nämlich alle) und das ist ein grosses Ungleichgewicht und manchmal schwierig zu (er)tragen. Was hat mir geholfen? Zu spüren, dass ich nicht auf mein Scheitern und auf die Scheidung reduziert werde. Freundlichkeiten in Form von einem Lächeln, einem Kompliment, einer Umarmung oder einem offenen Gespräch schätze ich seither sehr. Ich bin nämlich mehr als mein Scheitern. Jawohl.

Im Grunde hat mir meine Scheidung wieder neu vor Augen geführt, wie wertvoll jeder einzelne Mensch ist. Die, die sich trennen genauso wie die, die noch zusammen sind. Die, die verlassen werden und die, die schon immer allein waren. Wir alle sind wertvoll. Und wir alle verdienen es als wertvolle und kostbare Menschen behandelt zu werden.

An Ehemalige

Den folgenden Text schrieb ich als Reaktion auf die Berichte von Teilnehmern im Best Hope, der Drogenrehabilitation an der mein erster Mann, Stefan, seine Therapie gemacht hatte. Ehrlich gesagt, passt er auch zu mir, auch wenn ich keine ehemalige Drogenabhängige bin, aber eine Ehemalige bin auch – irgendwie.

Seit zwei Jahren bist du clean. Am Anfang war es nur eine kleine, sogar wackelige Entscheidung, aber dein Leben hat eine total andere Richtung eingeschlagen. Es gab Momente, da dachtest du, du würdest es nicht schaffen. Wie lernt man die Realität des Lebens, Schmerz, Verwirrung, Ohnmacht und Wut auszuhalten und nicht einfach zu betäuben? Du hast Wege kennengelernt, hast Heilung erfahren und erlebt, dass Freude auch inmitten von Schmerz zu finden ist. Du hast erfahren, dass du nie alleine unterwegs bist. Und das macht schon ganz viel aus. Aus der ersten Entscheidung, dem Kennenlernen einer neuen Welt und einer neuen Realität wurde der Wunsch nach echter Veränderung, nach einem neuen Lebensstil und das hat dann richtig was gekostet. Dann erst fing die echte Arbeit an. Trotz einigen Rückschlägen hast du erkannt, dass sich etwas, manchmal nur etwas ganz Kleines verändert hat. Da waren Leute, die etwas in dir gesehen haben, was du schon lange aus den Augen und dem Sinn verloren hattest. Du warst diesen Menschen die ganze Mühe wert und wertvoll genug, dass sie sich die Zeit nahmen und es sich Energie kosten liessen, dich auf diesem alles andere als einfachen Weg zu begleiten. Das hat dir Hoffnung gegeben. Vielleicht ist dein Leben doch noch für etwas gut?

Ich habe einen Ehemaligen geheiratet. Er war etwas vom Besten, was mir in meinem Leben je passiert ist. Durch seine nicht so perfekte Kindheit, durch alle erlebten Verletzungen, war er sensibel auf andere Menschen und hat Fassaden schnell durchschaut. Man konnte ihm nichts vormachen. In der Therapie hat er gelernt, wie man lebt ohne sich selbst und andere zu verletzen. Er hat gelernt zu seinen Fehlern zu stehen, zu Kommunizieren und ehrlich und transparent zu sein. Er hat Beziehungen und echte Freundschaften aufgebaut. Er hat gelernt, wie man gesund lebt – innerlich und äusserlich. Davon habe ich enorm profitiert. Wir hatten eine gute und gesunde Beziehung, in der wir fähig wurden Schwierigkeiten, von denen wir nicht verschont blieben, zu konfrontieren und konstruktiv anzugehen.

Ich möchte dir sagen, dass du durch deine Vergangenheit, so kaputt sie auch sein mag und durch deine Gegenwart, so hart sie auch sein mag, einen wertvollen Schatz hast, von welchem du selbst und auch viele andere Menschen in deinem Umfeld noch lange (ein Leben lang) zehren werden. Du wirst es schaffen. Du bekommst in der Therapie wertvolle Werkzeuge, um das Leben hier draussen zu bewältigen. Und, ehrlich gesagt, brauchen wir das alle. Das Leben hier draussen ist auch für uns ziemlich schwierig und jeder hat so seine Art, wie er damit fertig wird. Lass dich nicht täuschen, auch wir, die wir noch nie irgendwelche Drogen genommen haben, haben mit Süchten und Fehlverhalten zu kämpfen. Unsere Süchte sind vielleicht weniger offensichtlich und manchmal weniger körperlich destruktiv, aber im Grunde versuchen wir alle einfach zu überleben und das Leben einigermassen hinzukriegen.

Je nachdem wie eine Sucht oder eine Suche (diese Wörter unterscheiden sich nur durch einen Buchstaben) zum Ausdruck kommt, ist sie mehr oder weniger auffallend. Aber kaum einer von uns ist völlig frei von einer Sucht oder einer Suche. Wir können es nur mehr oder weniger gut verstecken.

Es lohnt sich dranzubleiben, weil du wertvoll bist und ganz viel zu geben hast, einfach durch dein Sein. Du schaffst das! Du bist nicht allein!


Damit melde ich mich kurz ab. Die kleine Familie, die ein neues Zuhause gefunden hat, zieht Ende dieser Woche um. Diese Woche heisst es fertig packen und in ein paar Tagen dann wieder auspacken. Wir freuen uns sehr darauf, aber Sven (inzwischen schon 11 und schon fast so gross wie ich!) hat es passend ausgedrückt, als er mir sagte: „Ich freue mich ziemlich auf unser neues Zuhause, aber ich werde wahrscheinlich heftig weinen, weil wir hier so viele Erinnerungen haben.“

Ein Gebet für mich und dich

Du, ja du, du mit dem Etikett ‚geschieden‘, ja, ich meine dich. Schau nach oben und lass die Tränen laufen. Atme tief ein und wieder aus.

Das Leben geht an dir vorbei, sagst du, denkst du, fühlst du. Keiner, der da ist, keiner, der versteht wie es sich anfühlt nur noch ein Halbes zu sein und trotzdem das Ganze tragen zu müssen, keiner, der dir einen Ehrenplatz anbietet, weil, was hast du schon zu bieten ausser ein Haufen Scherben.

Ich möchte dir heute, hier und jetzt, einen Platz frei machen. Möchte dich sehen, wie du gerade und stolz dein Haupt erhebst und weisst,

ich bin wertvoll

ich bin ganz

ich bin genug

ich bin wunderschön

ich bin stark

Alles wird gut, nicht weil du alles kannst und alles weisst und alles richtig machst. Nein, alles wird gut, weil es einen gibt, der nie aufgibt, der alles hält und sogar und besonders dich hält und erhält.

Der Plan für dein Leben war gut und ist immer noch gut. Der Plan hat sich nicht geändert, es ist auch kein neuer Plan da. Es ist der Plan, der schon immer da war. Ein Plan geprägt von Liebe und Geduld, von Barmherzigkeit und Gnade, ein Plan von einem freundlichen, liebevollen und ja, einem netten Gott. Das passt aber nicht zu all dem, was ich erlebt, erduldet und erlitten habe, schreit dein Herz. Das darf es auch schreien. Das soll es auch schreien. Und wenn es sich dann ausgeschrien hat, soll es ruhig werden, weil einer da ist, der grösser ist als alle Ungerechtigkeit, als alles Versagen, als alles Stolpern. Einer, der an dich glaubt und der immer noch an seinem Plan für dich festhält. Dein Herz weiss es, spürt es. Lass es zu.

Heute bete ich für dich. Dass mit jedem Einatmen ein Stück Würde zurückkommt. Mit jedem Ausatmen ein Stück Scham geht. Dass mit jedem Einatmen Vertrauen zunimmt. Mit jedem Ausatmen Verzweiflung schwindet.

„Du bist geliebt und gewollt. Du bist ein kostbares Kind“ heisst es in einem Lied und das gilt heute, hier und jetzt für dich. Es gilt für immer. Atme es ein.

Das sind wir alle

Alice: „Glaubst du, ich habe den Verstand verloren?“

Vater: „Ich fürchte, ja. Du bist übergeschnappt, hast eine Meise, bist nicht ganz bei Sinnen. Aber weißt du was? Das macht die Besten aus!“ (Alice im Wunderland)

 

Kürzlich im Supermarkt meines Vertrauens.

Eine Mutter: Zucchetti haben wir gern; suchen wir eine kleinere Packung.

Ihr Teenager-Sohn: Gell, ich bin immer noch psychisch krank?

Ich (nur in Gedanken): „Mein Lieber, vielleicht bist du noch psychisch krank, aber weisst du was? Das macht gar nichts. Wir haben alle irgendwo einen Sprung in der Schüssel. Einige verstecken es einfach etwas besser als andere.

Das Leben ist manchmal sehr hart und brutal. Was uns im Leben begegnet und womit wir fertig werden müssen, können wir selten steuern oder kontrollieren. Manchmal müssen wir lernen mit einer Not zu leben. Manchen Menschen gelingt das einigermassen, anderen gelingt es gar nicht und sie brauchen Hilfe und Werkzeuge, um überhaupt zu überleben. Das kann eine Klinik sein, ein Medikament oder es können auch andere Menschen sein, die jemanden auffangen und tragen. Aber so ganz alleine gelingt es uns, glaube ich zumindest, nicht wirklich.

Manchmal wird einem alles zu viel. Pubertät, Entscheidungen, Beziehungen, Familie, Schicksale. Das Leben ist nicht einfach und wird auch mit dem Alter nicht wirklich einfacher. Manchmal findet man nicht mehr alleine aus dem Nebel heraus. Manche Menschen verdrängen oder betäuben die Not, was aber langfristig nicht hilfreich ist. Oft sind die „kranken“ Menschen diejenigen, die auf das reagieren, was in der Welt krank ist. Sie sind „zu sensibel“. Es ist auch wirklich schwierig eine Not oder einen Schmerz auszuhalten und kann uns krank machen.

Vor allem aber brauchen wir einander. Wir können einander den Rücken stärken und einander in Verständnis begegnen. Wir können die Messlatte etwas tiefer ansetzen und Menschen Raum zum Atmen geben, Fesseln lösen und vermitteln: Ich seh dich. Du bist gut genug. Du bist wertvoll. Du bist geliebt. Ich mag dich.“

Am liebsten hätte ich den Jungen umarmt, aber das macht man hier nicht so und ich bin für so etwas auch viel zu schüchtern. Aber im Herzen hab ich ihn ganz fest gedrückt.

Alice: „Glaubst du, ich habe den Verstand verloren?“

Vater: „Ich fürchte, ja. Du bist übergeschnappt, hast eine Meise, bist nicht ganz bei Sinnen. Aber weißt du was? Das macht die Besten aus!“ (Alice im Wunderland)

Ach, wie schön!

Ich joggte mal wieder um den See. Ich wollte eigentlich gar nicht um den See joggen, sondern nur bis zum See, aber als ich hinkam, fand ich es so schön, dass ich dann doch um ihn herum joggte. Meine ersten Worte, als ich zum See kam, waren: „Ach, wie schön!“ Dazu muss ich euch erklären, wie dieser See aussieht. Es ist ein künstlich angelegter See. Das heisst, es ist ein sehr langgezogenes Rechteck. Er ist nicht besonders gross, aber doch speziell, weil auf der einen Seite ein Sandstrand angelegt wurde und auf der anderen Seite Schilf wächst. Es hat viele Enten, ab und zu einen Schwan oder zwei und manchmal sehe ich dort auch einen Reiher. Der wird dann immer besonders herzlich von mir begrüsst. Auf der Schilfseite befindet sich eine sehr grosse Wiese und dann noch ein wenig Wald. Am Waldrand wurden schöne Grillplätze installiert, die im Sommer sehr begehrt sind. Auf der Strandseite stehen grosse Wohnblöcke, die zum Teil noch nicht fertig gebaut sind.

Es ist also nicht einfach schön, wie schön natürlich oder schön unberührt und naturnah, sondern voller Gegensätze. Die eine Seite sehr natürlich und erholsam, weit und grün. Die andere Seite dicht bebaut und grau, Beton und Glas. Trotzdem sind meine ersten Worte, wenn ich dorthin komme, „ach wie schön.“ Und gleich nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, spürte ich eine Wahrheit aufkeimen. Was ist schön? Ist mein Leben schön? Es ist nicht schön in dem Sinn, dass alles unberührt und naturnah belassen wurde, es hat da auch die eine oder andere Baustelle gegeben. Was aber schliesslich zur Folge hatte, dass Menschen in mein Leben getreten und zu denen Beziehungen entstanden sind, die sonst nicht da wären. Und gerade diese Begegnungen, Beziehungen und Freundschaften machen mein Leben so kostbar und wertvoll – und ja, schön.

Es gibt eine japanische Reparaturmethode für Keramik, in der ein zerbrochenes Tongefäss mit einer Kittmasse geflickt wird, in der Pulvergold oder andere Metalle wie Silber und Platin eingestreut sind. (Es gibt auf Wikipedia einen Artikel dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Kintsugi.) Ein zerbrochenes Gefäss wird so zu einem kostbaren Kunstwerk. Wie eine Tonschale, kann auch ein Leben zerbrechen und wie eine zerbrochene Tonschale können auch die Risse in unserem Leben mit Gold geflickt werden, was uns nur kostbarer macht. Deshalb: Ein Leben, genauer gesagt, dein und mein Leben, kann auch mit einer (oder mehreren) Baustellen schön sein, wie mein See; so schön, dass einem einen Momentlang der Atem stockt und man sich dazu entschliesst doch noch ein Weilchen zu bleiben.

http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Tea_bowl_fixed_in_the_Kintsugi_method.jpg

Trennungszeit 6 – Was ich dir noch sagen wollte

Du hast dich von deinem Partner getrennt und ich ringe nach Worten. Ich möchte aus meinem Erfahrungsfundus ein schlaues Wort heraus zaubern, aber ich finde so schnell keines. Was kann ich dir mitgeben? Ich will nicht zu viel sagen, ich will aber auch nicht schweigen! Plötzlich kommt mir dieser Gedanke und ich sage diese Worte nicht nur zu dir, sondern auch zu mir und zu uns allen, die wir von einem Scheitern im Leben betroffen sind:

Du brauchst dich für deine Trennung nicht zu schämen. Du hast dich für deine Ehe eingesetzt, hast hingeschaut und die Dinge beim Namen genannt. Du hast dich nicht vor der Ehrlichkeit und der Beziehungsarbeit gescheut. Es war ein ganzes Stück harte Arbeit. Du hast geredet, geweint, gehofft und geglaubt und dich entschieden der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und zu retten, was noch zu retten war. Das braucht Mut und dafür brauchst du dich nicht zu schämen.

Es fühlt sich wie eine Niederlage an, weil es nicht dem entspricht, was so viele als richtig empfinden. Es entspricht ja auch nicht dem, was du ursprünglich wolltest. Aber an der Wahrheit festzuhalten und dich für einen aufrichtigen Lebensstil zu entscheiden, ist bewundernswert. Dafür brauchst du dich nicht zu schämen.

„Nicht der Kritiker zählt; nicht der Mann, der aufzeigt, wie der starke Mann stolpert, oder wo der Vollbringer von Taten diese hätte besser machen können. Das Ansehen gebührt dem, der tatsächlich in der Arena steht, dessen Gesicht von Staub, Schweiß und Blut gezeichnet ist und der tapfer weiter strebt; der irrt und wieder und wieder fehlt, denn es gibt keine Bemühungen ohne Irrtümer und Schwächen. Das Ansehen gebührt dem, der tatsächlich bestrebt ist die Taten auszuführen, der große Begeisterung kennt, und große Hingabe; der sich einer wertvollen Sache hingibt; der im besten Fall den Triumph des Erfolges erfährt und im schlimmsten Fall scheitert, aber wenigstens mutig wagt.“ Theodore Roosevelt, US-Präsident, 1858-1919

Scham will uns einreden, dass wir das Leben nicht gut meistern, will uns unsere Berechtigung etwas zu tun und sagen rauben. Scham schneidet uns vom Leben ab und am Schluss stehen wir ganz einsam da und drehen uns nur noch um uns selbst. Wenn wir warten, bis wir unserer Vorstellung (oder der Vorstellungen von anderen) entsprechen, werden wir lange warten und weder in unserem Leben noch in der Welt etwas bewegen.

Deshalb, gebe der Scham keinen Raum. Du bist wertvoll, du hast viel Arbeit hinter dir, du bist vielleicht auf dem Boden gelandet, verschwitzt, staubig und mit blutigen Knien, aber du bist mutig und stark und dein Leben liegt noch vor dir! Packe diese Chance mit beiden Händen und wage es mutig zu sein!

Dein Scheitern ist nicht nur ein Ende, es ist auch ein Anfang.

Heute leben und zwar schön

Der Luftballon flog über den Tisch, Kristina gab ihm einen Schubs und er flog in ein Wasserglas, welches vom Tisch rutschte und auf dem Boden in tausend Stücke zersplitterte. Es war eines meiner schönen Gläser. Das Stück kostet Fr. 10.- und ich hatte es mir vom Weihnachtsgeld meiner Mutter gekauft. Schluck.

Es waren Gäste im Haus, Kristina schaute betreten und ich sagte nicht viel. Die Frage stand im Raum, warum ich nicht die alten, einfachen (billigen und ja, hässlichen) Wassergläser aufgetischt hatte. Um die wäre es nicht schade gewesen. (Es war ja schliesslich ein Kindergeburtstag.) Wir putzten und räumten auf und ich hatte Zeit meine Gedanken zu sortieren. Ich erinnerte mich daran, warum ich gerne im Alltag die schönen Sachen gebrauche.

Als ich Stefan heiratete, hatten wir Alltagsgeschirr (sein Junggesellengeschirr) und ein schönes, von uns beiden ausgesuchtes Sonntagsgeschirr. Als er krank wurde, fing ich an jeden Tag das Sonntagsgeschirr zu gebrauchen. Da wir nicht mehr so viele gemeinsame Sonntage haben würden, wollte ich jeden Tag mit Stefan aus den schönen Tellern essen.

Ausserdem, wenn wir auf die spezielle Gelegenheit warten, um das schöne Geschirr rauszuholen, das hübsche Kleid anzuziehen, das spezielle Parfüm aufzutragen, das … (jeder setze hier das ein, was ihm kostbar und wertvoll ist), kann es passieren, dass es plötzlich zu spät ist und es bleibt nur noch der schale Nachgeschmack einer verpassten Gelegenheit.

Nackt oder das liebe Geld

Ich las kürzlich im Tagesanzeiger einen Artikel über eine alleinerziehende Mutter, die als Sozialempfängerin am Existenzminimum lebt. Solche Schicksale sind sehr bewegend, weil sie hier mitten unter uns in diesem reichen Land stattfinden. Sie bewegen mich auch deshalb, weil es genauso gut mich hätte treffen können. Vieles kam mir auch sehr bekannt vor, weil ich kürzlich, um eine finanzielle Unterstützung für meine Kinder zu bekommen, meine Finanzen (zwar nicht auf dem Sozialamt, aber trotzdem) offen darlegen musste. Diese Frau sagt über den Gang aufs Sozialamt: „Es ist ein gewaltiger Eingriff in die Privatsphäre, man legt sein ganzes Leben auf den Tisch und fühlt sich wertlos.“

Ich las diese Worte und wusste, ja, genau so ist es. Wenn ich erklären muss, woher wie viel Geld kommt – und auch noch wofür ich es ausgebe – da habe ich das Gefühl, dass ich nackt dastehe. Es ist kein angenehmes Gefühl, auch wenn ich sage, dass es mir nichts ausmacht. Es macht doch was aus. Und es macht auch was mit mir. Ich fühle mich irgendwie etwas weniger wert. „Jeder scheint für sich sorgen zu können, nur ich kann es nicht“ geht mir dann durch den Kopf. Wertlos.

Ich vergleiche zu schnell und zu oft. Und ich vergesse zu schnell und zu oft, dass wir bisher immer mit allem versorgt wurden, was wir brauchen und das auf mehr als nur auf der materiellen Ebene.

Wir essen dreimal täglich, haben fliessendes Wasser, ein warmes Haus, Kleider und Schuhe zum anziehen – sogar ein Auto!!! Ich liebe meinen Beruf und (meistens) mein Muttersein und darf mich wirklich nicht beklagen – und vor allem ist mein Leben ist reich an Erfahrungen, an Freundschaften, an Liebe (okay, ich hätte nichts gegen einen Partner… :-)). Und dann denke ich: Wertvoll.

Vitiligo

Ich habe Vitiligo. Vitiligo ist ein Hautleiden. Ich muss an dieser Stelle gleich anmerken, dass ich nicht wirklich darunter leide, zumindest nicht physisch. Typisch für Vitiligo sind Pigmentstörungen in Form weißer, pigmentfreier Hautflecken, die sich ausweiten können, aber nicht unbedingt müssen. (Alles Weitere könnt ihr googeln.)

Als ich drei Jahre alt war, entdeckten meine Eltern den ersten weissen Fleck an meinem Bauch. Die Flecken sind über die Jahre gekommen, gegangen, dann immer mehr und grösser geworden und jetzt im Sommer, wo sich die gesunde Haut bräunt, fallen die weissen Flecken richtig gut auf.

Ich komme zurück auf das Leiden. Ich sagte, mein Leiden sei nicht physisch. Und doch ist es nicht ganz ohne eine so sichtbar auffallende Hautkrankheit zu haben. Als Teenager habe ich mich für meine weissen Knie geschämt. Und als ich mich endlich mit etwa 30 an die Flecken an meinem Körper gewöhnt hatte, wurden die Flecken in meinem Gesicht immer grösser und mehr. Das steckt eine Frau (und wohl auch mancher Mann) nicht einfach so weg. Auch nicht wenn alle sagen, es sei ja nur äusserlich und meine Familie und engsten Freunde mir bestätigen, dass sie es schon gar nicht mehr wahrnehmen.

Ich war sehr erleichtert, als ich vor einigen Jahren stark deckendes Camouflage Make-Up kennengelernte, welches viel besser abdeckt und haftet als normales Make-Up. Seither schminke ich mich jeden Tag und bekomme von Leuten, die nicht wissen, dass ich im Gesicht Flecken habe, zu hören: „Zum Glück hast du keine Flecken im Gesicht!“, worauf ich sie dann meistens aufkläre und sie mein Gesicht ungläubig mustern.

Ich denke oft, dass es uns im Umgang miteinander nicht viel anders geht. Wir gehen davon aus, dass es unseren Mitmenschen so gut geht, wie sie aussehen. Aber vielleicht ist es nur die Schminke, die gut aussieht. Vielleicht versteckt sich unter der Schminke ein weisser Fleck, ein Leiden, eine kranke Ehe, die Sorge um ein problematisches Kind, eine scheidungsbedingte Armut, ein Versagen, eine Sucht, eine Verzweiflung (die Liste lässt sich endlos weiterführen). Aber wir lassen uns von der Schminke blenden und überdecken unsere eignen weissen Flecken selber auch tüchtig mit Schminke.

Dieses „Sich-etwas-vorspielen“ führt zu zwei negativen Auswüchsen. Erstens, leben wir nicht authentisch und zweitens, rauben wir allen anderen die Möglichkeit uns dort zu begegnen, wo eine Beziehung echt wird. Das heisst, keiner, weder wir noch die anderen, können das leben, wozu wir bestimmt sind und wonach wir uns sehnen, nämlich Gemeinschaft.

Dabei machen uns unsere Fehler, unsere Schwächen und Grenzen gerade menschlich und nahbar. Was mich an anderen Menschen anzieht, ist nicht ihr Superhelden-Gehabe, ihr perfektes „Ich-hab’s-ja-so-im-Griff“-Leben oder ihr geistliches Übertünchen aller zerbrochenen Menschlichkeit. Ich werde vielmehr von dem angezogen, womit ich mich identifizieren kann, also ihren Schwächen, ihren Fehler und ihren Grenzen, gerade weil ich meine Schwächen, Fehler und Grenzen kenne. Da kann ich mitreden. Ich werde mich nicht mit deinem perfekten Familienleben identifizieren können. Da wird zwischen uns nichts entstehen. Aber wenn ich höre, wie es wirklich mit deinem Teenager läuft und wie du dich dabei fühlst, werden wir beide zusammen darüber lachen (oder weinen) können und ich werde merken, dass ich nicht allein bin. Das tut meiner Seele gut.

Vor ein paar Jahren traf ich ein etwa 6-jähriges Mädchen, deren ganzer Körper so stark von Vitiligo betroffen war, dass es aussah, als habe sie dunkle Flecken, statt weisse. Plötzlich merkte sie, dass ich auch weisse Flecken hatte und schloss mich sofort in ihr Herz. Wo sie mich vorher kaum beachtet hatte, schwirrte sie nun um mich her, erzählte von ihrem Bruder, zeigte mir Fotos und war ganz einfach daran interessiert ihr Leben mit mir zu teilen. Ohne viele Worte darüber zu machen, wusste das kleine Mädchen, dass ich sie verstand. Zum ersten Mal war ich froh um meine Flecken. Meine Flecken gehören zu mir, wie meine Erfolge und Misserfolge. Sie haben mich und meine Geschichte geprägt und mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Sie haben mir sogar die Türen zu einem anderen Herzen geöffnet. Wenn das nicht was wert ist!