Er sieht

Früher war mir die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin peinlich. Ich meine, da wird eine Frau von ein paar Männern, religiösen Männern vor Jesus gezerrt und er soll ein Urteil über sie sprechen. Mann! Schlimmer geht’s kaum. Ich fühlte mich auch schon so an den Pranger gestellt, öffentlich zur Schau gestellt mit meiner Schuld, mit meinem Versagen, mit meiner gescheiterten Ehe. Nicht schön, sag‘ ich euch, gar nicht schön. In so einem Moment wäre ich lieber unsichtbar.

Und das war nur der Anfang. Jesus zieht seinen Finger durch den Sand und spricht die bekannten Worte aus: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ und da wird’s nur noch peinlicher. Ich bin nämlich auch schon so ein Pharisäer gewesen, der da steht und darauf wartet, dass Gott jetzt ein Machtwort spricht und da endlich Ordnung schafft und die Sünde des anderen öffentlich bestätigt. Ich bin also das, was ich gar nicht sein will. Ich bin genau so, wie die Menschen, denen ich dieses Verhalten ankreide. Und auch als diese Figur in der Geschichte will ich lieber unsichtbar sein. Aber die Religiösen machen sich selber unsichtbar. Einer nach dem anderen lässt sein Stein fallen, den er vorbereitend und erwartend hielt und macht sich aus dem Staub. (Es wurde ihnen wohl auch zu peinlich, was ja inzwischen total zum Groove dieser Geschichte passt.)

Und dann ist noch Jesus, dieser erstaunliche Mann und Gott, der so ganz anders ist. Er sieht. Er sieht die Frau. Er sieht ihre Schuld. Er sieht die Männer. Er sieht auch ihre Schuld. Und er urteilt nicht. Weder über die Frau, noch über die anklagenden Männer. Er traut uns zu, dass wir selber erkennen, wo wir schuldig geworden sind. Wir müssen es uns nicht gegenseitig an den Kopf werfen. Wir müssen weder mit Steinen noch mit Urteilen werfen. Wir dürfen uns von ihm sehen lassen.

Und er bleibt auch nicht stumm (wie die Pharisäer), er bezieht mit seinen Worten ganz Stellung. „Frau, wo sind deine Ankläger? Ich verurteile dich auch nicht.“ Er überlässt das Schweigen den anderen, weil Schweigen manchmal lauter redet als Worte. Und Schweigen redet in dieser Geschichte keine schönen Worte, sondern klagt an. Er klagt nicht an. Er stellt wieder her. Und er sieht. Er sieht mit Worten, die wiederherstellen.

Trennungszeit 4

Nach meiner Trennung fühlte ich mich blossgestellt und, ja, es gab Menschen um mich herum, die mich verurteilten, nicht immer mit dem was sie sagten, sondern auch mit dem, was sie nicht sagten. (Das funktioniert nämlich auch so rum und kenne ich nur zu gut von mir selber.) Mein Scheitern war öffentlich. Meine Schuld (weil nach der gängigen Meinung immer beide Schuld sind) war öffentlich.

Ich fühlte mich damals sehr geknickt. Diese Bezeichnung kommt sogar in der Bibel vor und ist eigentlich eine wunderbare Verheissung Gottes: „Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus“.

Nur, wie macht man das, so von Mensch zu Mensch?

Ein Beispiel haben wir: Jesus zeigt in seinem Umgang mit der Frau, die im Ehebruch ertappt wurde, auf eindrückliche Art und Weise, wie wir mit Menschen umgehen können und sollen, die aus irgendwelchen Gründen entblösst vor anderen dastehen (und ich setzte mit diesem Beispiel Scheidung nicht mit Ehebruch gleich, sondern es geht mir um die Blossstellung, um die Verwundbarkeit der Betroffenen und wie Jesu damit umging).

In seiner Begegnung mit dieser Frau, deren Versagen so öffentlich war, die so entblösst vor einem Haufen Männer steht und so geknickt war, hält Jesus keine Predigt und stellt auch keine Fragen. Und eigentlich war das Gesetz (ich wiederhole: das Gesetz Gottes! also so etwas wie die höchste Instanz) sehr klar und verlangte, dass diese Frau gesteinigt werden sollte. Aber es fliegt kein Stein. Und schon gar nicht von Jesus – und er war die höchste Instanz. Aber seine wenigen Worte sind deutlich. Jesus wendet sich interessanterweise zuerst an die Männer: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!

Erst nachdem er alle anderen anspricht, die in ihrer selbstgerechten Haltung dastehen und sich einer nach dem anderen ehrlicherweise davon macht, wendet er sich an die Frau. Ich kann mir seinen liebevollen Blick sehr gut vorstellen und auch wie die Frau die Liebe, Annahme und Vergebung in seinen Augen sehen konnte, noch vor er die Worte aussprach: Ich verurteile dich auch nicht…

Dieser Mann, dieser Gott, ist einfach erstaunlich.

Die Frage

„Hat er diese Dummheit machen müssen, nur damit ich daran lerne und wachse? – Ist das die Entschuldigung für sein Verhalten?“

Die Verzweiflung meiner Freundin war gross. Sie war durch das Verhalten ihres Mannes tief verletzt worden und rang mit den vielen Gefühlen, die einem in so einem Moment durchfluten und die man versucht zu sortieren und zu verstehen. Ich wollte helfen, trösten, hatte aber keine spontane Antwort auf ihre Frage, die mich noch jahrelang beschäftigen sollte. (Und überhaupt, was weiss ich schon?)

Der Wortlaut dieser Frage ändert sich je nach Situation immer wieder, aber am Ende stellt sich im Grunde immer die Frage: Müssen wir schlechte Entscheidungen treffen oder müssen andere an uns schuldig werden, bevor wir uns verändern lassen und zu reiferen Persönlichkeiten werden? (Und wo, bitte, ist Gott in all dem drin?)

Die Antwort auf diese Frage ist nein, davon bin ich heute überzeugt. Unsere persönliche Entwicklung hängt nicht vom Verhalten anderer Menschen ab. Die Entschuldigung für ihre schlechten Entscheidungen liegt nicht darin, dass wir dadurch zu besseren Menschen werden.

Wir können jedoch davon profitieren, da wir alle früher oder später in unserem Leben mit Dingen konfrontiert werden, die uns herausfordern über uns selbst hinauszuwachsen – unser Charakter wird geschliffen, wir werden vor die Wahl gestellt, aus unseren Prinzipien und nicht aus verletzten Gefühlen heraus auf Brüskierungen zu reagieren. Dadurch werden wir barmherziger und gnädiger, wir wachsen in die Tiefe, machen Platz für Neues.

Diese Herausforderung kann durch eine Person oder durch Umstände eintreten, die wir nicht kontrollieren können: Naturkatastrophen, menschliches Versagen, Ablehnung oder schlichte Gemeinheit und die Unreife anderer Menschen. Manche von uns kämpfen mit inneren Dämonen, Verprägungen, falsche Denkmuster.

In dieser Frage geht es viel weniger darum wer Schuld ist (mal ehrlich, was habe ich davon, wenn ich das weiss, ausser dass ich noch selbstgerechter werde), sondern viel mehr um meine Reaktion darauf. Ob und wie ich mich diesen Herausforderungen stelle, ist mir selbst überlassen und auch meine alleinige Verantwortung.

Den Schmerz von Verrat oder Verlust zu erleben, wird entweder etwas Positives oder etwas Negatives ins uns hervorbringen – etwas wird es auf jeden Fall hervorbringen und ohne Entscheidung für das Positive wird das Negative schnell die Oberhand gewinnen. Diese Entscheidung ist ganz und gar unabhängig davon wer an der ganzen Misere Schuld ist.

Das scheint nicht immer fair zu sein, aber wer sagt, dass das Leben fair ist? Ist es nicht. Das Leben ist das Leben: unfair, kompliziert, chaotisch, verwirrend, laut und manchmal leise, vergebend, zart, herrlich und wunderschön. Dafür – das Leben in der ganzen Fülle zu erleben – entscheide ich mich jeden Tag neu.

(In diesen Gedanken geht es nicht um unser Verhalten in einer Situation in der wir Missbrauch erleben.)

Ehe und Scheidung von der Kanzel

Ich habe lange an der Formulierung folgender Gedanken gearbeitet (etwa zwei Jahre) und endlich konnte ich das, was ich empfinde in eine akzeptable Form bringen. Ich habe meine Gedanken als Brief an Leiter von christlichen Gemeinden gefasst und vielleicht findet der eine oder andere Nicht-Leiter auch etwas Gedanken-Futter darin. Mir ist es wichtig diese Gedanken auf Papier zu bringen, da ich dieses Jahre innerlich mit meiner gescheiterten Ehe abgeschlossen habe. Es war ein langer Prozess und jetzt bin ich bereit weiterzugehen. Mich erfüllt ein tiefer Friede über meinen jetzigen Zivilstand. Das ist für mich nicht selbstverständlich. Es ist ein grosses Geschenk diese Freiheit zu spüren. Ich möchte es nicht unterlassen zu erwähnen, dass ich gerade  in meiner Gemeinde viel Unterstützung erfahren habe und meine Erfahrungen mit Christen und dem Thema Scheidung nicht nur negativ waren. Es gibt allerdings in unserem Reden und Denken über unseren Glauben und das Leben noch ein gewisses Lernpotenzial. Wie überall.

Liebe Leiter der christlichen Gemeinde

Ich möchte euch gerne ein Feedback geben zu der Art, wie ich die Äusserungen von der Kanzel zum Thema Ehe und Scheidung empfinde.

Mein von Gott wiederhergestelltes und noch fragiles Selbstvertrauen kann mit ein paar Worten von der Kanzel zerschmettert werden und ich liege am Boden und habe das Gefühl, ich sei eine hartherzige Person, mit der Jesus nichts anfangen kann.

Die Eheratschläge, die ich von der Kanzel höre, sind sehr generell gefasst, nicht differenziert und zeigen nur den Idealfall auf, wo beide Partner bereit sind an der Ehe zu arbeiten; ein Partner betet und der andere kommt zur Einsicht, usw. Aber, es gehören immer zwei dazu, um eine Ehe zu retten. Wenn eine Ehe auseinandergeht, sagt man schnell, dass es zwei dazu braucht. (Ich bin der Meinung, dass einer allein eine Ehe kaputt machen kann.) Wenn eine Ehe gekittet werden soll, scheint die Meinung zu herrschen, dass ein Partner das allein hinkriegen soll!! Da kann ich nur müde mit dem Kopf schütteln.

Ich kämpfe mich jeden Tag durchs Leben. Vieles ist für mich als Alleinerziehende sehr schwer und sehr belastend. Dabei ist mein grösster Trost und meine grösste Stütze und Hilfe im Leben, nebst lieben Freunden und Nachbarn, die Gegenwart von Jesus und das Wort Gottes. Wenn ich dann in den Gottesdienst gehe und mich anschliessend entmutigt und missverstanden fühle, ist das ganz ganz schwierig. Ich bin der Meinung, ihr seid euch einfach nicht bewusst, was eure harten Worte über Scheidung in einer geschiedenen Person auslösen.

„Mit einem weichen Herz wird Ehe lebbar“. Richtig. Ich bin einverstanden, aber ihr bleibt da stehen und in mir redet es weiter: „Da ich in meiner Ehe nicht länger leben konnte, habe ich ein hartes Herz. Meine Ehe ist vielleicht daran gescheitert, dass ich ein hartes Herz habe…“ usw.

Während dem Rest der Predigt versuche ich aus diesem Wirrwarr raus zu kommen und verpasse die anderen Dinge, die gesagt wurden und bin am Schluss total geschlaucht.

Ich suche in euren Aussagen über die Ehe immer die Gnade für die Gescheiterten und finde sie selten bis nie. Das macht mir nicht Mut, das reisst mich nur jedes Mal wieder runter.

Es ist ja nicht so, dass wir Christen (und ich bin inzwischen der Meinung, auch die, die sich nicht als Christen bezeichnen) eine leichtfertige Entscheidung zur Scheidung getroffen haben (was eine Zeitlang von der Kanzel so klang: Scheidung ist der weltliche Stil mit einer problematischen Ehe umzugehen). Ganz im Gegenteil. Aber uns wird unterstellt, dass wir mit der Scheidung einfach den Weg des geringsten Widerstandes gewählt haben. (Weil ja mit Christus alles möglich ist… versteht ihr?) Oder, dass wir hartherzig sind. Oder, dass uns nicht bewusst ist, was wir unseren Kindern antun. Wie oft habe ich schon darüber geheult, weil ich kaum mit dem fertig werde, was ich meinen Kindern antue. Warum wohl lebte ich fünf Jahre getrennt, bevor es zur Scheidung gekommen ist? Wohl kaum, weil ich diese Entscheidung leichtfertig getroffen habe. Aber es wird oft von der Kanzel so dargestellt, als würden Scheidungen in der Welt zum alltäglichen Leben gehören, wie das Nutellabrot zum Z’morge.

Was als Zeugnis gemeint ist: „Unser Glaube hat uns vor einer Scheidung bewahrt“, kommt mir schräg rein. Bei manchen Eheleuten wird das stimmen, aber mich hat mein Glaube nicht davor bewahrt und viele andere auch nicht. Und wir sind selber schockiert und entrüstet darüber.  Wenn es um körperliche Heilung geht, versuchen wir immer auf diejenigen Rücksicht zu nehmen, die nicht geheilt werden und auch sie zu ermutigen. Nur bei den Geschiedenen verhalten wir uns wie der Elefant im Porzellanladen.

Mal fiel in einem Gottesdienst von der Kanzel der Satz „…falls hier Geschiedene sind…“. Und ob. Ich meine, ging der Pastor wirklich davon aus, dass keine oder nur vielleicht Geschiedene im Gottesdienst sind? Ja, wir sind da und vermutlich nicht wenige. Was ich schön fand, ist, dass wir als Geschiedene erwähnenswert waren. Immerhin.

Wenn ein Prediger ausdrückt, dass seine Ehe (oder die Ehen der Christen) vor dem Zerbruch sicher ist, fühle ich mich in Frage gestellt. Was habe ich als Christ falsch gemacht? Irgendetwas muss mit meinem Christsein, mit meinem Glauben oder mit mir nicht stimmen.

Es macht einen Unterschied aus, wer was sagt (und natürlich auch wie). Wenn sich eine geschiedene Person zum Thema Ehe und Scheidung äussert, denke ich: „Ja, du weisst wovon du redest“. Wenn eine Person mit einer intakten Ehe das Gleiche sagt, denke ich: „Du hast ja keine Ahnung“. Die geschiedene Person redet aus der Zerbrochenheit heraus, die ungeschiedene Person redet oft aus einer Überheblichkeit heraus – so scheint es zumindest. Und ganz ehrlich, so habe ich früher auch geredet und gedacht.

Wenn ich nicht die Erfahrung meiner ersten Ehe hätte, die mir bestätigt, dass zwei fehlerhafte Menschen sehr wohl eine gute (sogar eine sehr gute) Ehe führen können, würde ich tatsächlich an meiner Ehefähigkeit zweifeln. Und zwar hauptsächlich wegen dem, was ich von der Kanzel zu hören bekomme. Dagegen weiss ich aus eigener Erfahrung, dass Liebe, Annahme und Vergebung in einer Ehe funktionieren. Aber ich habe die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass es nicht funktioniert, wenn nur ein Partner bereit ist Ehe zu leben.

Ich hoffe, dass euch diese Gedanken helfen mit geschiedenen Menschen besser umzugehen. Wir versuchen, wie alle anderen auch, uns nach unserem Scheitern wieder aufzuraffen, aufzustehen und weiterzugehen. Auf unserem Weg könnten wir, wie alle anderen auch, Vergebung, Annahme, Liebe und Ermutigung brauchen. Da war doch einer, vor etwa 2000 Jahren, der hat das vorbildlich vorgelebt. Ihm nach!